Afghanistan: No Justice no peace. Ein Reisebericht
Spätestens beim Abflug aus Masar-i-Scharif ist klar: Wir sind im Kriegsgebiet. Im steilen Zick-Zack steigt die Transall auf – um Raketen kein leichtes Ziel zu bieten. Genau so steil geht es in Kundus beim Landeanflug runter. Dort am Flughafen: Schwerbewaffnete Bundeswehrsoldaten, die unseren Konvoi ins PRT-Lager begleiten.
PRT, kurz für Provincial Reconstruction Team. Das soll nach Wiederaufbau klingen, ist aber ein Militärlager – mit stark befestigten hohen Mauer. Hier ist ein Teil des Bundeswehr-Kontingents in Afghanistan stationiert. Der gepanzerte Konvoi fährt mit hoher Geschwindigkeit. Auf dem Weg sehe ich kurz ein Schild: Dyncorp. Ein US-amerikanisches Sicherheitsunternehmen, das Polizisten ausbildet.
Tatort Kundus
Mein Kollege Jan van Aken und ich sind nach Afghanistan gekommen, um uns selbst ein Bild zu machen. Ein Bild von der allgemeinen Situation im Land am Hindukusch. Aber vor allem ein Bild von den Folgen der blutigsten von Deutschen befohlenen Militäraktion nach dem Zweiten Weltkrieg. Am 4. September vergangenen Jahres wurden gegen zwei Uhr Ortszeit zwei von Taliban gestohlene Tanklastwagen bombardiert. Tatort: Eine Sandbank etwa fünfzehn Kilometer südlich der Stadt Kundus im Norden Afghanistans. Erst hieß es, die Bundeswehr habe einen »erfolgreichen Einsatz« durchgeführt und zahlreiche Taliban getötet. Später wurden auch zivile Opfer eingestanden. Mittlerweile ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrzahl der Opfer Zivilisten waren – eine Annahme, die sich auch mit unserer Recherche vor Ort deckt.
Der Bundestag hat einen Untersuchungsausschuss zur Kundus-Bombardierung eingerichtet, dem auch Jan van Aken und ich als Abgeordnete der LINKEN angehören. Wir wollten dazu eine Perspektive einholen, die in der Debatte sonst überhaupt nicht im Zentrum steht: Die Perspektive der Opfer. Wir wollen ihnen ein Gesicht und eine Stimme geben.
Angehörige der Opfer
Unsere Recherche führt uns zu zwei Frauen: Dr. Habibe Erfan und Korshid Zaka, beide Mitglied im örtlichen Provinzrat. Als ihnen bei der Trauerfeier für die Opfer der Bombardierung das Ausmaß der Katastrophe klar geworden war, begannen sie eine Untersuchung. Rund um die Sandbank, auf der die Tanklastzüge feststeckten, liegen sechs Dörfer. Die Frauen zogen von Haus zu Haus um herauszufinden, wer Angehörige verloren hat, wer verletzt wurde. Ihr Ergebnis: 143 Menschen sind bei dem Angriff umgekommen, davon 26 Kinder im Alter von 10 bis 16 Jahren. 91 Witwen hat der Angriff hinterlassen. Ihre Untersuchung ist seriös – die Bundeswehr selbst hat die Opferliste von Erfan und Zaka als Grundlage für ihre Soforthilfe genommen.
Hinter jedem Toten steht ein Schicksal. Laila zum Beispiel hat zwei Söhne bei dem Angriff verloren. Sie war schon vorher Witwe. Die beiden Söhne gingen noch zur Schule. Der eine kümmerte sich zudem um das Feld, der andere um die Kuh der Familie. Nun bleibt dies alles an Laila hängen – außerdem muss sie ihre kleinen Töchter versorgen. Hilfe hat sie nur von ihren Brüdern, die ihr manchmal Öl und Reis vorbeibringen.
Erschüttert haben mich auch die Gespräche mit Eltern, die ein oder mehrere Kinder bei dem Angriff verloren haben. Wir bekommen die Schulzeugnisse der gestorbenen Kinder gezeigt. Es schnürt einem die Kehle zu.
„Wär’ ich nicht arm, hätten wir kein Benzin gebraucht“
Was haben diese Leute nachts um zwei auf einer Sandbank zu suchen? So und ähnlich wurde nach dem Angriff Misstrauen geschürt. Wer außer Taliban-Kämpfern sollte sich bei den Tanklastzügen aufhalten?
Bei unseren Gesprächen erhalten wir plausible Antworten auf diese Fragen. Die Nacht des Angriffs war im Ramadan, die Dorfgemeinschaften kamen gerade aus der Moschee, die Frauen bereiten das gemeinsame Mahl, das vor Tagesbeginn eingenommen werden sollte. Da macht das Gerücht die Runde, dass unten in der Furt ein Tanklaster festsitzt – dass es Benzin gibt! Die ersten machen sich mit Schalen und Kanistern auf den Weg, andere folgen, auch aus Neugier.
So versammelten sich schließlich rund 200 Personen auf der Sandbank. Sie fühlten sich sicher, seit Stunden schon kreiste ein Aufklärungsflugzeug über der Stelle und nichts war passiert. Niemand rechnete mit dem Angriff. Dann fielen die Bomben. Die Tanklastzüge explodierten, der Feuerball war noch Kilometer weiter zu sehen.
Die Schicksale der Opfer zeigen auch, wie sehr die Armut und systematische Unterentwicklung des Landes mit dem Krieg verschränkt sind. Drei von Bulbuls Enkelkindern starben am 4. September. Sie klagt: »Wär’ ich nicht arm, hätten wir kein Benzin gebraucht«.
Afghanische Oppositionelle
Wir haben auch die Gelegenheit mit einigen oppositionellen Afghaninnen und Afghanen zu sprechen.
Mit Ramazan Bashardost treffen wir uns in seinem kleinen Abgeordnetenbüro. Bashardost war der drittplatzierte Präsidentschaftskandidat. Er konnte 11% der Stimmen auf sich vereinigen. Als Angehöriger der traditionell diskriminierten Volksgruppe der Hazara hat er quer durch die Bevölkerung eine starke Unterstützung. Sie liegt in allen Provinzen zwischen 5 und 20%. Bashardost ist das Gegenbild zu dem korrupten, elitären pro-westlichen Politikertypus, der in Afghanistan das Sagen hat. Er fährt mit seinem kleinen Auto durchs Land, wohnt im Zelt und lehnt es ab, Bodyguards zu haben. Gleich zu Beginn unseres Gespräches stellt er klar: Dass Rangin Spanta mit deutscher Unterstützung zum Außenminister gemacht wurde, hält er für eine große Schädigung. Spanta, der Mitglied der Grünen ist und lange Zeit in Aachen gewohnt hat, sei zunächst 100% gegen den Krieg aufgetreten und hätte dann in Amt und Würden den Krieg befürwortet.
Bashardost kritisiert, dass der Wiederaufbau nicht vorangeht. In der Provinz Tahar gibt es eine Brücke, die überschwemmt wurde und die seit Jahren nicht aufgebaut wurde. Nur 20% des landwirtschaftlich nutzbaren Landes würden bebaut. 85 % der Bevölkerung seien Bauern, aber 70% von ihnen hätten keine Arbeit. Man bräuchte 2-3 große Staudämme, aber keine würden gebaut.
Er kritisiert scharf die ausländischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Sie würden einen Löwenanteil des Geldes, das deutsche und andere Steuerzahler für den Wiederaufbau zahlen, einstreichen und für sich und ihre Mitarbeiter ausgeben.
Die Regierung Karsai hält Bashardost für korrupt und kriminell. Merkel, Karsai und andere haben die früheren Mörder an die Macht gebracht, kritisiert er. „Der erste Schritt in Richtung Frieden ist, dass diese Mörder wegkommen,“ sagt Bashardost. Er fordert, dass alle, die an den Kriegen der vergangenen 30 Jahre beteiligt waren, nicht mehr in die Politik dürfen. „Wenn die Mudjaheddin an der Regierung sind, kämpfen die Taliban in den Bergen und umgekehrt.“ Dabei setzt er große Hoffnung auf die junge Generation, die heranwächst.
Basharost ist sicher, dass die Menschen in Afghanistan Minister haben wollen, die helfen. „Wir sind durstig nach Frieden und Freiheit,“ sagt er. „Gebt das Geld den Menschen und nicht für Militär. Dann braucht ihr kein Militär mehr.
Uns gelingt es, ein Treffen mit Malalai Joya zu vereinbaren. Malalai lebt drei Jahren im Untergrund. Sie hatte das Parlament öffentlich kritisiert und war deswegen suspendiert worden. Sie geht hart mit der Regierung Karsai und der NATO ins Gericht. Von ihr erfahren wir auch etwas über die Stimmung im Land: „Eine der wenigen positiven Sachen, die uns dieser Krieg beschert, ist, dass die Menschen heute politisch viel wissender sind als zuvor. Sie kennen die Feinde des Landes, sie wissen, wer ihr Land zerstört hat, wie schwach das Karsai-Regime in Wirklichkeit ist. Täglich kommt es zu immer mehr Demonstrationen, über die niemand berichtet.“
Wadir Safi rundet unser Bild ab. Er ist Professor für Völkerrecht an der Universität Kabul. Er berichtet, dass es eine Menschenrechtskommission gegeben hat, die 2002 bis 2004 gearbeitet hat und 2005 ihre Ergebnisse vorgestellt hat. Drin heißt es, dass 96% der Afghanen Opfer derjenigen sind, die jetzt an der Macht sind. 46% davon hätten sich dafür ausgesprochen, dass die Täter nicht bestraft werden, aber von der Macht entfernt werden müssen. Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben, sagt Safi. No Justice, No Peace.
Mitten im Krieg
Die Reise bestätigt uns in der Auffassung, dass die Bundeswehr mitten im Krieg steckt und das Massaker von Kundus kein Betriebsunfall, sondern die logische Folge des bisherigen Einsatzes am Hindukusch war.
Die wichtigste Erfahrung war für uns die Begegnung mit Opfern von Kundus. So haben zumindest einige von ihnen für uns einen Namen und ein Gesicht bekommen. Sie und die anderen Gegenerinnen und Gegner des Krieges, die wir treffen konnten, zeigen zudem: Es gibt ein „anderes“ Afghanistan – jenseits der Warlords und Taliban. Wir können ihnen helfen, indem wir für die sofortige Beendigung des Krieges kämpfen.
Christine Buchholz, Mitglied des Kundus-Untersuchungsausschuss, Linkspartei