Nichts wie es scheint. Die Türkei - alte Politik im neuen Gewand
Wenn man versucht, die Entwicklungen in der Türkei und den kurdischen Gebieten zu verstehen, ist nichts wie es scheint. Die oppositionellen Kräfte, welche auf eine Aufklärung der undurchsichtigen Beziehungsgeflechte drängen, sind vereinzelt und in der Minderheit. Das Erstaunen darüber, dass vorgeblich linke und bürgerliche Opposition im vermeintlichen Kampf gegen den Islam mit einem militärischen Machtapparat voll mit unbestraften Kriegsverbrechern und Folterern paktiert, verblasst, wenn man sich ihre Haltung zur kurdischen Frage oder dem Genozid an den Armeniern vor Augen hält:
Eine Haltung, welche die Aufarbeitung staatlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit als störend für einen vermeintlich „demokratischen“ Prozess sieht, stellt dabei noch die harmloseste Variante zum Schutz der Täter dar. Ohne Aufarbeitung staatlicher Verbrechen der Vergangenheit aber ist eine freiheitliche Entwicklung ausgeschlossen. Ein Blick auf Ereignisse allein der letzten drei Monate zeigt, dass die Türkei - sowohl Politik und Militär, aber leider auch ein Großteil der Mehrheitsgesellschaft - von einer Lösung eines der dringendsten Probleme des Landes - dem Status der Kurden - weit entfernt ist.
Paktieren gegen kurdische Organisationen
Sowohl Europa als auch die USA unterstützen ungestört die Machthaber -- wie zuletzt die Razzien, Festnahmen und Verhaftungen in Brüssel zeigen: Der kurdische Kanal Roj TV wurde am 04.03.2010 von Hunderten vermummten PolizistInnen auf Befehl der Staatsanwaltschaft von Brüssel gestürmt. Bei der Durchsuchung wurden 200 Computer und andere Technik zerstört bzw. beschlagnahmt. Zur gleichen Zeit wurden die Europavertretung der kurdischen BDP und weitere 23 Wohnungen und Institutionen durchsucht. Der Vorsitzende des KONGRA GEL Remzi Kartal, die Mitglieder des KNK, Zübeyir Aydar, Adem Uzun, Faruk Doru und 26 weitere Personen wurden festgenommen, gegen gegen 8 Personen wurde Haftbefehl erlassen.
Die „Nationale Ehre“
Zeitgleich können türkisch nationale Medien wie z.B. die Hürriyet problemlos täglich ihre volksverhetzenden Artikel veröffentlichen und in der Türkei wird durch Massenfestnahmen, Verbote und Straflosigkeit staatlicher Täter dem kurdischen Volk aber auch anderer Fundamentalopposition jeglicher Boden für legale oppositionelle Politik entzogen.
Auch wenn aus autonomer linksradikaler Sicht etliche Methoden der PKK zu kritisieren sind (z. B. Führerkult, Ermordung und Bedrohung Andersdenkender, Aktionen, bei denen Zivilbevölkerung zu Schaden kommt), so ist nachvollziehbar, dass bei einer derartigen Repression für viele KurdInnen der Weg in die Berge naheliegt. Das Vorgehen gegen die kurdische Opposition sowohl in der Türkei als auch im Exil zwingt die Betroffenen zu dieser Reaktion, welche wiederum zum Vorwand genommen wird, sie staatlich umso schärfer zu bekämpfen. Genau dies war mit dem Vorgehen in Brüssel beabsichtigt. Der Türkei wird zugleich signalisiert, sie bräuchten nur ihre Empfindlichkeiten hervorzuheben, schon stehen die Verbündeten an ihrer Seite. Der letzten Repressionswelle gegen die Kurden in Brüssel, waren die Resolutionen des US-Außwärtigen Ausschusses und des Schwedischen Parlaments zum Genozid an den Armeniern vorausgegangen, auf welche die Türkei mit Drohungen und Rückruf ihrer Diplomaten reagierte. O-Ton Erbakan: Diese Erklärungen betreffen direkt unsere nationale Ehre. Er drohte den rund 100.000 Armeniern im Land, dass man sie ausweisen werde.
Von aussen kaum sichtbar beeinflusst das Militär die öffentlichen Diskurse, um von den tatsächlichen Problemen des Landes abzulenken. Diese Thesen belegen einige Ereignisse der letzten Zeit.
Die AKP und das Militär
Im Jahr 2002 erhielt die islamisch geprägte Partei AKP die absolute Mehrheit. Seit dieser Zeit wird auf verschiedenen Ebenen ein Machtkampf zwischen der Regierung und Teilen des Militärs ausgetragen. Im Versuch, die Macht des Militärs einzuschränken, wurden im sog. „Ergenekon-Prozess“ strafrechtliche Ermittlungen und Prozesse gegen das Militär und deren Umfeld eingeleitet. Der Vorwurf lautete, dass unkontrollierte Kräfte im Militär sich verselbstständigt und gemeinsam mit anderen Kräften „Putschszenarien“ zum Sturz der (islamischen) Regierung entworfen hätten: Z. B. Terroranschläge verüben, die dann der PKK untergeschoben werden sollen, um so ein Klima des Chaos zu verursachen. So sollte in der Bevölkerung die Akzeptanz für ein Eingreifen des Militärs vorbereitet werden - klassische counterinsurgency-Methoden. Noch nie zuvor war die Allmacht des Militärs derart angetastet worden: Viele der Festgenommenen sitzen in Haft und warten auf ihren Prozess. Die Zeitschrift „Taraf“ veröffentlicht heimliche „Tagebucheintragungen“ hoher Militärs zu den Umsturzplänen.
Im Februar 2010 wurde erstmals ein Jurist, ein streng kemalistischer Oberstaatsanwalt, unter dem Vorwurf der Verstrickung in die Putschpläne durch die Sonderstaatsanwälte in Erzincan festgenommen. Daraufhin schaltete sich der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte ein, enthob die verantwortlichen vier Staatsanwälte ihres Amtes und kündigte Strafverfahren wegen Rechtsbeugung an. Hiermit wurde durch das kemalistische Aufsichtsgremium klar gemacht, dass es sich als wichtiger Akteur im herrschenden Konflikt begreift.
Bereits vor vier Jahren hatte der hohe Rat einen Staatsanwalt, der die Verstrickung von Militärs in Terroranschläge als Kampfmethode gegen den kurdischen Widerstand angeklagt hatte, seines Amtes enthoben und auf Lebenszeit gesperrt.
Ebenso im Februar 2010 kündigte der Vorsitzende der streng kemalistischen Partei CHP/ republikanische Volkspartei, Deniz Baykal, ein Mißtrauensvotum gegen den Innenminister (AKP) an, dem er vorwarf, mit Führern der mittlerweile verbotenen kurdischen DTP die Straflosigkeit zurückkehrender Guerilla abgesprochen und damit mit „Terroristen“ gemeinsame Sache gemacht zu haben.
Ein Deal, keine Aufklärung
Nachdem Mitte Februar erneut 49 hochrangige Offiziere festgenommen wurden, trafen sich Armeespitze und Regierung. Unter den am 26.02.10 abgeführten Militärs befand sich auch General Angin Alan, Chef der früheren militärischen Sondereinheiten und als Nationalheld gefeiert, der 1999 den Transport Öcalans aus Kenia überwachte und als Hardliner im Kampf gegen kurdische Widerstandskämpfer gilt. Danach veröffentlichte die Armeeführung das Eingeständnis, dass die Vorwürfe der Umsturzpläne richtig seien. Im Gegenzug wurden die wichtigsten Militärführer aus der Haft entlassen.
Dieses Vorgehen bedeutet aber nicht, wie die „Zeit- Online“ am 04.03.10 meint, dass die „türkische Armee sich nunmehr selber demontiere“. Eher handelt es sich um ein präzise abgestimmtes Vorgehen zwischen den Beteiligten, eine Art Deal zwischen Regierung und Militär der Art: Ihr lasst uns regieren, wir geben Euch eure wichtigsten Leute zurück und rühren nicht an den Verbrechen der Vergangenheit. Nach außen und für die Öffentlichkeit bestimmt werden abgesprochene Bilder vermittelt. Dieser Deal geht also klar zu Lasten der zivilen Bevölkerung. Der AKP geht es dabei nicht um die Demokratisierung des Landes, da sie ebenfalls die Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit blockiert.
Trotzdem sind ehemals Türkische Linke, Kemalisten und vermeintlich emanzipatorische Intellektuelle und Frauenverbände zusammen mit dem verbrecherischen Militär im Kampf gegen die überspitzt dargestellte Gefahr des politischen Islam der AKP. Eine höchst gefährliche, starke und unfassbare Allianz.
Repressionswelle gegen kurdische Opposition
Dabei eskaliert das Vorgehen insbesondere gegen die kurdische Opposition: Im Dezember 2009 wurde die kurdische Partei DTP verboten, welche in den Lokalwahlen die meisten Stimmen gewann. Zeitgleich wurden hunderte kurdische Bürgermeister, Politiker und Mitglieder dieser Partei festgenommen und verhaftet. Erneut verhafteten die Sicherheits- und Justizkräfte kurdische MenschenrechtsaktivistInnen und RechtsanwältInnen unter dem Vorwand, sie hätten das Ansehen der Türkei im Ausland verunglimpft. Für viel Empörung sorgten die Verhaftungen und Misshandlungen von zahlreichen Minderjährigen bei Demonstrationen und Kundgebungen. Mit ungerechtfertigten Anklagen als Unterstützer oder Mitglieder des Terrorismus und hohen Verurteilungen soll der Widerstand bereits im Keime unterdrückt werden.
Medialer Diskurs ohne Folgen
Zugleich erlebt die Türkei aber auch eine lange nicht denkbare Welle öffentlicher Diskurse in den Medien: Im TV und auch manchen Zeitschriften wird die Macht des Militärs in Frage gestellt und diskutiert.
Vor kurzem lief eine Serie im TV an, die über das extrem brutale Haftsystem im Gefängnis von Amed (türkisch: Diyarbakir, heimliche Hauptstadt der Kurden auf türkischem Territorium) berichtete. Ein Aufschrei ging durch die türkische Bevölkerung: wie schrecklich, das war uns nicht bekannt! Die türkische Mehrheitsgesellschaft wiegt sich in Unwissenheit. Keines der an der kurdischen Zivilbevölkerung durch Militär und Sicherheitskräfte begangenen Verbrechen wurde bis heute aufgeklärt.
Die „Samstagsmütter“
Die „Samstagsmütter“, die die Aufklärung des Verschwindenlassens und der vermutlichen Ermordung ihrer Angehörigen fordern, hatten im Jahr 2000 ihre samstäglichen Sitzaktionen eingestellt. Als vor einem Jahr klar wurde, dass bei den Prozessen gegen das Militär die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung ausgeklammert werden, begannen sie erneut mit ihrem Sitzprotest. Bis heute ohne Erfolg. Mit Tränen in den Augen sagte eine der Samstagsmütter nach 15 Jahren Kampf um Aufklärung: „Früher dachte ich, was werde ich tun, wenn ich erfahre, das mein Mann wirklich tot ist? Heute denke ich in Anbetracht meines Alters, was soll ich tun, wenn ich sterben muss, ohne je die Leiche meines Mannes beerdigt haben zu können?“