Der lange Atem. Widerstand gegen die Remilitarisierung der BRD
„Der Begriff Remilitarisierung sei wegen seiner Nähe zum Begriff ›Renazifizierung‹ zu vermeiden. [...] Besser: ›Eingliederung in die europäische Abwehrfront aus Notwehr‹.“
Amt Blank (Vorläufer des Verteidigungsministeriums)
Nach dem von Nazideutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg beschossen die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz 1945 die Entmilitarisierung Deutschlands. Die Westmächte stellten bereits ein Jahr später erste Überlegungen an über eine Wiederbewaffnung der Westsektoren im Rahmen eines westlichen, antikommunistischen Bündnisses. Noch vor Gründung der BRD setzte sich ein kleiner Kreis um Konrad Adenauer (CDU) für die Schaffung einer bewaffneten Truppe ein, die in eine europäische Armee integriert sein sollte.
Bei der Wahl zum ersten Bundestag im Mai 1949 waren sich alle parlamentarischen Kräfte noch einig, dass es nicht zu einer Wiederbewaffnung kommen dürfe. Ende August 1950 wurde bekannt, dass Bundeskanzler Konrad Adenauer Geheimverhandlungen über einen „deutschen Wehrbeitrag“ in einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit den Westalliierten geführt hatte. In Unkenntnis von Kabinett, Parlament und Öffentlichkeit hatte er auf eigene Initiative dem US-Hochkommissar John McCloy ein entsprechendes „Sicherheitsmemorandum“ überreicht. Der damalige Innenminister Gustav Heinemann (CDU) und spätere Bundespräsident trat daraufhin zurück.
Schon im Mai 1950 war die Dienststelle Schwerin unter Führung des Nazi-Generals Gerhard Graf von Schwerin eingerichtet worden. Nach dessen Rücktritt im Oktober 1950 entstand daraus das Amt Blank. Die Aufgabe blieb die gleichen: Vorbereitung für den logistischen Aufbau einer Armee („Vorbereitungen militärischer Maßnahmen“). Dabei machte man sich die „Osterfahrung“ von Nazi-Generälen wie Adolf Heusinger, Hans Speidel und anderen zunutze.
Ohne uns: Breiter Widerstand gegen die Wiederbewaffnung
Gleichzeitig wuchs der Widerstand gegen die Remilitarisierung. Zunächst waren es vor allem Kriegswitwen, -waisen und -invaliden, die Protestbriefe schrieben und Versammlungen organisierten. Dieses Engagement mündete Ende 1950 in die sogenannte Ohne-uns-Bewegung. Neben der KPD, Teilen der SPD, den Gewerkschaften und der Frauenbewegung unterstützen die Kirchen die Bewegung gegen die Wiederbewaffnung. Auf einem Treffen regionaler antimilitaristischer Gruppen in Essen wurde im Januar 1951 eine Volksbefragung zu Remilitarisierung beschlossen und in der Folge ein Hauptausschuss zur Durchführung gebildet.
Die Bundesregierung lehnte eine solche Befragung ab. Im April 1951 verbot Innenminister Robert Lehr (CDU), der Nachfolger Heinemanns, die Volksbefragung: Sie sei ein Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung und haben deren Beseitigung zum Ziel. „Wer an der kommunistischen Volksbefragung teilnimmt, gefährdet den Frieden und stellt sich in den Dienst des Bolschewismus“, so ein vom Ministerium für gesamtdeutsche Fragen herausgegebenes Plakat.
Der achtzigköpfige Hauptausschuss zur Volksbefragung spiegelte den gesellschaftlichen Querschnitt der frühen Nachkriegszeit wieder: Die KPD übernahm keineswegs – wie behauptet – eine führende Rolle. Trotz Verbot der Volksbefragung gründeten sich Aktions- und Befragungsausschüssen. Abstimmungen wurden bei Zusammenkünften von Parteien und Organisationen, in Betriebs- und Vereinsversammlungen, in Kinos und Kulturveranstaltungen, vor Betrieben und in Wohnungen durchgeführt. Flugblattaktionen, Veranstaltungen und Demonstrationen begleiteten die Befragung. Alle Aktivitäten wurden von Anfang an von der Staatsmacht unterdrückt. Auf einer Demonstration im Mai 1952 in Essen erschoss die Polizei den Kommunisten Phillip Müller – aus „Notwehr“.
Trotz Verbots, Kriminalisierung der AktivistInnen und massiver Diffamierung wurde die Volksbefragung vom April 1951 bis April 1952 in der BRD durchgeführt. Die überwältigende Mehrheit der 9.119.667 befragten BundesbürgerInnen sprach sich gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages aus. In der DDR lehnten bei der Befragung Mitte 1951 99,4 Prozent der ca. zwölf Millionen Abstimmungsberechtigten eine Remilitarisierung Deutschlands ab.
Hunderttausende wurden verfolgt, Tausende kriminalisiert
Zwei Jahre später wurde den KPD-Mitgliedern Oskar Neumann, Karl Dickel und Emil Bechtle wegen ihrer Tätigkeit im Hauptausschuss zur Volksbefragung der Prozess gemacht. Nur wenige Jahre nach dem Ende des Faschismus sahen sie sich einer Rechtsprechung ausgesetzt, die sich ganz in der Tradition des „Dritten Reiches“ bewegte. Grundlage des Prozesses waren die 1951 vom Bundestag verabschiedeten sogenannten Blitzgesetze, durch die „Hochverrat“, „Staatsgefährdung“ und „Landesverrat“ in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurden. In der Folge reichte schon eine rote Nelke am 1. Mai aus, um als KommunistIn verfolgt zu werden.
Nach zwei Jahren Untersuchungshaft war der Hochverratsprozess gegen Oskar Neumann, Karl Dickel und Emil Bechtle für die Bundesanwaltschaft ein Musterprozess für weitere Verfahren nicht nur gegen KriegsgegnerInnen, sondern vor allem gegen KommunistInnen. Trotz Aussagen von VerfassungsschutzagentInnen musste der Hochverratsvorwurf fallen gelassen werden. Verurteilt wurden die drei wegen Bildung einer „kriminellen Vereinigung“. Neumann erhielt drei Jahre Haft. Ihm wurde für fünf Jahre das passive Wahlrecht aberkannt und er verlor alle Ansprüchen aus Widerstand und Verfolgung. Dickel wurde zu drei Jahren Haft verurteilt, Bechtle zu acht Monaten.
Bis 1969 wurden ca. 250.000 BRD-BürgerInnen von politisch motivierten Straf- und Ermittlungsverfahren erfasst. 6.300 KommunistInnen und „Sympathisanten“ zwischen 1951 bis 1968 verurteilt und gegen 25.000 staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Viele der AnklägerInnen und RichterInnen waren schwer belastete NS-JuristInnen.
„Lieber will ich ins Gefängnis, als dass Deutschlands Jugend und mein eigener Sohn jemals aufs Schlachtfeld muss“, so Emil Bechtle vor Gericht. Noch vor der Urteilssprechung entzog sich Oskar Neumann durch Flucht in die DDR der Strafe. Er wurde 1961 in Duisburg unter falschen Namen verhaftet und verbüßte seine Reststrafe bis Ende 1962. Danach nahm er als Publizist und Redner eine prominente Rolle innerhalb der DKP ein. Emil Bechtle tauchte für elf Jahre unter und arbeitete nach Verbüßung seiner Reststrafe Mitte der 1960er Jahre in Reutlingen.
Der Weg zum Krieg war frei
Der Kampf gegen die Wiederbewaffnung hatte keinen Erfolg. Dem Widerstand wurde durch die strafrechtliche und politische Verfolgung vieler AktivistInnen das Rückgrat gebrochen. Durch das Verbot der KPD fiel nach und nach die durch die KommunistInnen eingebrachte Infrastruktur weg. Eine Rolle spielte auch, dass es sich um ein sehr heterogenes Bündnis von über 250 Gruppierungen handelte, das von den Kirchen bis zu ehemaligen Generälen reichte – und nicht jedeR KriegsgegnerIn war auch PazifistIn.
Während die Verfolgung von AntimilitaristInnen und KrieggegnerInnen bis in die 1960er Jahre weiterging, erfolgt der zielgerichtete Aufbau der Bundeswehr. Bereits Ende 1952 erkundigte sich die Bundesregierung beim Verband der Deutschen Automobilindustrie, welche Kraftfahrzeughersteller für die Produktion bestimmter Fahrzeuge infrage kämen. Mit der Verabschiedung des „Wehrverfassungsgesetzes“ durch den Bundestag im Februar 1954 schafft die BRD die Voraussetzung für den Aufbau der Bundeswehr. Im Oktober wurden die Pariser Verträge unterzeichnet, die Deutschlands Wiederbewaffnung erlaubten. Im Mai 1955 wurde die BRD Mitglied der NATO. Im November 1955 erfolgte die Gründung der Bundeswehr. 1956 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Ab 1991 folgten die ersten Auslandskriegseinsätze der Bundeswehr – mit 76 Toten bis heute. Im April 2009 feierte die NATO ihr 60-jähriges Bestehen.
PS: Der lange Atem
Der Dokumentarfilm „Der lange Atem“ wurde als Abschlussarbeit von Christoph Boekel und Beate Rose an der Hochschule für Film und Fernsehen München im Jahre 1981 fertiggestellt.
Der Film beschreibt den Kampf gegen die Wiederbewaffnung der BRD im ersten Nachkriegsjahrzehnt und dokumentiert die Reaktionen des Staates darauf. Mit dem Preis der Deutschen Filmkritik ausgezeichnet, gab die Hochschule als Produzent den Schwarz-Weiß-Film jedoch nicht für den Verleih frei.
Durch einen außerordentlichen Vergleich erhielt Boekel die Rechte an seinem Drehbuch zurück. Er drehte den Film komplett neu („Der längere Atem“, 1983), der in den 1980er Jahren recht erfolgreich in den Kinos lief. Mithilfe von Fotos, Tonmaterial und Wochenschauausschnitten beschreibt der Film die schleichende Remilitarisierung der BRD.
Der Film folgt dabei den Erzählungen des Zeitzeugen Oskar Neumann. Das aktive KPD-Mitglied gibt vor einem grauen Hintergrund sitzend Auskunft über seinen politischen Werdegang und die Beweggründe seines Widerstands.
Im Rahmen der Solidaritätsaktionen zum Prozess gegen Axel, Florian und Oliver wurde der Dokumentarfilm mehrfach gezeigt. Im Februar 2009 konnte ein Gespräch mit Christoph Boekel über seinen Film geführt werden. Informationen aus diesem Gespräch flossen maßgeblich in diesen Artikel ein.