Über Observationen

Nachfolgender Text stammt aus der empfehlenswerten 52-seitigen Broschüre „Ehemalige Mitarbeiter der radikal zum 13.6.1995, dem Davor & Danach” von Ende der 1990er. Einige radikal-Redakteure nahmen die Repression gegen ihr Zeitungsprojekt zum Anlass einer umfassenden Reflexion und sprachen über gemachte Fehler innerhalb ihrer verdeckt organisierten überregionalen Struktur. Das zehnte Kapitel der Broschüre dreht sich um die Observationen der radikal-Mitarbeiter im Zeitraum von 1993 bis 1995. Nachfolgend dokumentieren wir dieses Kapitel erstmals im Internet.

Es ist - ebenso wie die gesamte Broschüre - noch heute sehr aufschlussreich. Wenn die Autoren von über einem Dutzend Männer und Frauen in fünf bis zehn bei Observationen eingesetzten Autos berichten, deckt sich dies etwa mit den im Prozess öffentlich gewordenen Zahlen der Observation am 30./31. Juli 2007, als die drei Angeklagten bei Brandenburg (Havel) festgenommen wurden.

Die Veröffentlichung versteht sich als Handreichung zur Veranstaltung des Einstellungsbündnisses am 7. Juni 2009 um 19 Uhr an der HU Berlin über Ermittlungsmethoden und Solidarität. Sie ist ein Lektürevorschlag und eine Ergänzung zur Veranstaltung, die sich auf einzelne (andere) Aspekte beschränken muss.

Einstellungsbündnis, im Juni 2009

Dokumentiert

10. Observationen 1993-1995

Seit Anfang 1993 befanden wir uns in einer äußerst unangenehmen Situation, der mit dem internen Konflikt eine andere unangenehme Situation vorausgegangen war. Dieser Vorlauf war prädestiniert dafür, auch die folgende unangenehme Situation der Observationen zu verdrängen, ebenso wie die Aufarbeitung des Konfliktes, ebenso wie die schlechten Voraussetzungen für die Fortführung der radikal.
In dieser Kette handelte es sich jetzt aber um eine neue Qualität der Verdrängung. Sie ähnelte einem Bumerang, der die nicht gelösten Probleme mit vielfältiger Wucht zurückbrachte.

Wir erlauben uns eine Spekulation. Was wäre geschehen wenn...

... das Eifel-Treffen nicht belauscht worden wäre, und wir unbelastet von Observationen die fällige 'Betriebsversammlung' hätten abhalten können?

Möglicherweise hätten wir dann eingehalten und die radikal erstmal eingestellt, auch auf das Risiko hin, dass sie dann am Ende gewesen wäre. Eingehalten hatten wir auch 1987/88, wobei wir damals gar nicht anders konnten, als erstmal aufhören. Wir legten die Priorität auf den Aufbau und ließen uns über ein Jahr Zeit, bis wir uns als bundesweite Struktur mit einer neuen Ausgabe zurück meldeten.

Heute waren unsere Bedingungen für das Weitermachen nicht ausreichend erfüllt. Die Aufgaben der ausgestiegenen GenossInnen konnten zwar aufgeteilt werden, und wir hatten auch neue Leute angesprochen. Bei diesen war aber noch ungewiß, ob sie gesamtverantwortlich in die Struktur einsteigen wollten. Es zeichnete sich ab, dass sie nicht ausreichten, um die allgemeine Überlastung absehbar auf ein arbeitsfähiges Niveau zu senken.
Von einer allgemeinen Überlastung zu sprechen trifft es nicht ganz. Der ein Jahr zuvor beschlossene kollektive Aufbruch wurde tatsächlich nur von einigen umgesetzt. Innerhalb des vergangenen Jahres hatte sich herausgestellt, dass das Gefälle an Verantwortung und Engagement durch die gemeinsam geführte Diskussion noch lange nicht aufgehoben war, und von denen, die sie damals mittrugen, waren einige in der Zwischenzeit gegangen. Tatsächlich waren mal wieder gerade die gesamtverantwortlich Aktiven überlastet, und ihr Zustand erinnerte an einen Hamster in seinem Laufrad, der aufgrund seiner eindimensionalen Geschäftigkeit gar nicht mehr auf die Idee kommen kann, dass er sich sinnlos wiederholt und irgendwann entkräftet abstürzen wird.

Nun gibt dieses Bild nur einen Teil der Realität wieder, denn ganz so stumpfsinnige Säugetiere waren wir nicht. Es bestand Unsicherheit darüber, wohin wir steuerten, aber wir hielten daran fest, dass sich eine Lösung nur aus der erneuten Diskussion aller Beteiligten ergeben konnte. Darauf richteten wir alles aus und versuchten bis dahin, den geordneten Rückzug zu organisieren und ein Minimum an Koordination zu gewährleisten.
Der von den Observationen betroffene Teil der Struktur löste sich zusehends auf. Aber während eine Rumpfstruktur den Laden zusammenhielt und dabei mit immer neuen Schwierigkeiten konfrontiert war, mußten wir die Betriebsversammlung ein ums andere Mal verschieben. Als sie dann stattfand, war es zu spät.

Aber fangen wir weiter vorne an. Als erstes wollen wir erläutern, mit welcher Art von Observationen wir konfrontiert waren.
Es gibt solche und solche Observationen: Wenn sich die Bullen relativ offen zeigen, wollen sie dich einschüchtern. Solche Verfolgungen gehen über kurze Zeiträume, können sich aber bei politisch einschlägig bekannten Personen von Zeit zu Zeit wiederholen.
Dasselbe gilt auch für einen Teil der nicht offenen, verdeckten Observationen. Die Bullen rechnen dich vielleicht einer militanten Szene zu und schauen von Zeit zu Zeit nach, ob du noch bei der Stange bist.
So erging es jahrelang etlichen Leuten, wenn die RAF oder andere Gruppen aufsehenerregende Anschläge gemacht hatten, und heute observieren sie bevor der nächste Castor losgeschickt, oder wenn militante Demos erwartet werden. Ein Jäger sitzt am Schreibtisch und sucht sich aus, was er für zentrale Orte, Köpfe und Organisatorinnen hält, schickt seine Leute los, sammelt deren mehr oder weniger eifrig erstellte Erkenntnisse, und in der Regel hört die Sache bald wieder auf, bis zum nächsten Mal.

Im Folgenden sprechen wir von anderen, von dauerhaften Observation. Die Bullen sind da und gehen nicht wieder weg. Um das festzustellen, brauchst du eine Weile. Erstens sind sie mit über einem Dutzend Männern und Frauen und 5 bis 10 Autos hinter dir her, die sich ständig abwechseln. Das kriegst du nur raus, wenn du deine Umgebung -besonders wenn du dich bewegst - genau beobachtest.
Zweitens sind sie auch mal wochenlang verschwunden, beschatten dich dann vier Tage lang, und machen anschließend wieder eine dreitägige Pause. Einmal hängen sie nur einige Stunden in der Nähe deiner Wohnung herum, und dann begleiten sie dich vom Verlassen des Hauses bis du abends das Licht ausmachst.
Du mußt also zunächst mal ein Gefühl dafür bekommen, dass dies eine Dauerobservation ist.

Als erstes überprüfst du jeden Zentimeter deiner Wohnung nach heißen Materialien, auch wenn du dir noch so sicher bist, dass sie sauber ist. Du vernichtest oder sicherst Briefe, Disketten, Adressen und Telefonnummern. Als nächstes informierst du eine Anwältin oder einen Anwalt, die oder der möglichst nicht nur ein geschäftliches Interesse an deinem Problem hat und dir (ebenso wie die Rote Hilfe oder ein Ermittlungsausschuß) mit Rat zur Seite stehen kann.
Du informierst auch deine besten Freunde und Genossinnen. Mit jedem und jeder Einzelnen mußt du besprechen, in welchem Zusammenhang, mit welcher Intensität, und ob ihr überhaupt noch miteinander verkehrt. Eure Bekanntschaft wird beobachtet auf der Suche nach Mittäterinnen und mit dem Ziel, politische Strukturen und Freundeskreise auszukundschaften.
Du kannst sagen, das ist mir egal, aber da du nicht allein auf der Welt bist, interessiert deine Einschätzung nur bedingt. Du mußt allen, mit denen du näher zu tun hast, Bescheid sagen, weil es ihnen vielleicht nicht egal ist, und weil sie die Konsequenzen eventuell mittragen müssen. In der Regel weißt du nicht, was die Bullen konkret wollen und in der Hand haben. Deshalb kannst du auch nicht überblicken, was sie aus ihren Obser-vationserkenntnissen machen, und wen sie alles mit reinziehen.
Für aufklärende Maßnahmen (Razzien, Observationen, Lauscherei) braucht es keine Beweise. Es genügen Vermutungen und Hinweise. Würden sie nichts mehr bei dir oder über dich erforschen wollen, wärst du wahrscheinlich schon festgenommen. Und wäre die Sache nicht wichtig genug, würden sie kaum mehrere Staatsdiener dauerhaft damit beschäftigen.
In der Regel bringt jede politische Observation Erkenntnisse, allein weil darüber dein engstes Umfeld und dein Tagesablauf ermittelt wird. Wie sie das Ganze nachher drehen, darauf hast du kaum Einfluß.

Bei einer solchen Observation kann sich vieles ändern und dein halbes Leben umkrempeln. Einige deiner Leute wirst du vielleicht gar nicht mehr sehen. Du wirst nur noch über andere oder gar nicht mit ihnen kommunizieren können, weil eure Beziehung die Bullen nichts angeht.
Andere werden dich unterstützen. Sie haben dich gerne und wissen, daß du Unterstützung brauchst. Ihr habt euch mit der Situation auseinandergesetzt und entschieden, daß die Bullen entweder schon wissen, daß ihr befreundet seid, oder daß ihr dieses Wissen nachträglich in Kauf nehmt.
Du wirst nicht mehr unbeschwert ein Haus betreten oder verlassen, und dich wird immer interessieren, ob sie wieder, oder noch immer da sind. Bei jeder strafbaren, politischen, und auch bei manchen ganz unverfänglichen Betätigungen, mußt du genau überlegen und mit den anderen absprechen, ob du daran teilnimmst, oder nicht. Jedes Treffen im größeren Kreis mußt du auf diese Probe stellen.

Aber was machst du, wenn du in einer verdeckten Struktur organisiert bist, wovon kaum eineR deiner Freunde und Genossinnen weiß? Wie sollst du allen Leuten, denen du in der Kneipe begegnest, Bescheid sagen, daß sie beim Rausgehen vielleicht fotografiert oder verfolgt werden? Du weißt zwar, daß es sich um deine alte Jugendfreundin Monika handelt, aber die Bullen sehen in ihr zuerst eine Kontaktperson, mit der du eventuell Konspirativitäten austauscht, oder über die du mit anderen in Verbindung stehst.
Wenn du verdeckt organisiert bist, kannst du nur deinen engsten Freundeskreis informieren. Bei anderen verantwortest du deren Gefährdung entweder alleine und auf das (ihr) Risiko hin, dass du gar nicht wissen kannst, was sie an für die Bullen interessanten Dingen so treiben, oder du begegnest ihnen nicht mehr, brichst den Kontakt ab. Du mußt immer einen durchdachten Weg finden, wenn du dich nicht in deiner Bude verkriechen oder auswandern willst.

Die Observationen gegen eine Teil der radikal-Struktur gingen über eineinhalb Jahre. Die Bullen observierten in mehreren Städten, Überland, und zumindest in einem Fall bis in die Niederlande.
Wir haben anfangs geschildert, dass es Monate dauerte, bis uns die Verfolgung bewusst wurde. Es vergingen weitere, bis wir sie als Dauerobservationen und auf unsere Struktur gerichtet erkannten. Ein letztes Mal wurde das betroffene Gremium Fischfraß einberufen. Das geschah unter erheblichem Aufwand, denn wir wollten keine Bullen dabei haben, und sie bekamen tatsächlich nur mit, dass ihre Vögel ausgeflogen waren.
Mit diesem Treffen löste sich das Gremium zwar geordnet auf, trotzdem folgten voneinander getrennte Realitäten. Unter dem Eindruck der Observationen zerfiel die gesamte Struktur in verschiedene Teile, zwischen denen es kaum Schnittstellen gab und Kommunikation stattfand.
Wir haben die Bedeutung von Delegierten-Treffen für unsere Struktur erklärt, jetzt waren sie kaum noch möglich. Auch ein Grundsatztreffen verschoben wir mehrmals, weil es lange Zeit zu riskant war. So sehr wir es brauchten, wußten wir, dass der Gegenseite nur noch dies fehlte. Und wenn wir auf eines genau achteten, dann darauf, dass der von den Observationen betroffene Kreis sich ja nicht ausweitete.
Wir haben auch erklärt, dass längst nicht alle in der radikal den ganzen Laden verantworteten, und daß die wenigen nach 1993 übrig Gebliebenen damit überfordert waren. Jetzt mußten sie sich noch einmal aufteilen: die einen schienen von den Observationen nicht betroffen und organisierten zwei weitere radikal-Ausgaben, die anderen versuchten die neue Situation in den Griff zu bekommen und durch Improvisation die fehlende Planung für diesen Fall zu ersetzen.
Da auch kleine Treffen nur unter erheblichem Aufwand stattfanden, konnten Diskussionen nur noch im kleinen Kreis, bzw. gar nicht mehr laufen. Stattdessen zirkulierten Protokolle in Datei-Form. Aber auch sie konnten kaum mehr als die gegenseitige Information erreichen, zumal es unter den erschwerten Bedingungen noch länger dauerte, bis das Papier einer Gruppe allen in der Struktur bekannt wurde.
So überschnitten sich die Entwicklungen und eine Koordination fand nur noch auf unterstem Niveau statt. Unterm Strich waren wir gerade mal in der Lage, den Austausch zwischen den verschiedenen Baustellen zu gewährleisten. Gesagt haben wir aber auch, daß Austausch allein wenig bringt, wenn die jeweiligen Informationen nicht verarbeitet werden und für die ganze Struktur brauchbare Ergebnisse folgen. Erstrecht wenn man es mit Observationen zu tun hat, ist ein diskutiertes und abgesprochenes Vorgehen unerläßlich.
Die Verarbeitung der Informationen übernahmen nur einige, und da es mal wieder dieselben waren, vergrößerte sich das Gefälle zwischen denen, die die Situation der Struktur annähernd überblickten, und denen, die hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt waren. Je länger sich dieser Zustand hinzog, desto mehr entfernten wir uns voneinander, desto mehr mußte gekittet und überbrückt werden. Das Krisenmanagement wurde zum Dauerzustand über Monate.

Wir bitten dieses Gefälle an Verantwortung und Überblick im Auge zu behalten, wenn wir im Folgenden genauer auf die drei Realitäten eingehen, die sich während der Observationen herausbildeten.
Das Gefälle war nicht neu. Die Repression verstärkte es nur, und sie führte uns die Grenzen unseres kollektiven Anspruchs vor. Gerade in Extremsituationen (zu denen Observationen gehören) zeigt sich, wie weit er real umgesetzt wird, und wie fest oder brüchig das Fundament eines Teils unserer Struktur war.

Bezüglich der ersten Realität wollen wir nicht groß über das bisher Gesagte hinausgehen:
Das bundesweite Gremium war nicht von Observationen betroffen. Erst nach den Funden am 13.6.95 ordneten ihm die Bullen eine Person zu. Die Kontakte zum gefährdeten Kreis des betroffenen Regionaltreffens wurden beizeiten abgebrochen oder abgesichert.
Das bundesweite Gremium übernahm einen Teil der Aufgaben des Regionalgremiums und versuchte den bedingten Ausfall weiterer tragender Leute zu kompensieren. Darüber hinaus kamen von hier aber mehr Fragen als Impulse bezüglich des Umgangs mit den Observationen. Erste Priorität hatte, daß sie nicht überspringen durften, um nicht noch mehr Leute reinzureißen und die Handlungsfähigkeit der gesamten Struktur aufs Spiel zu setzen.

Die eigentliche Auseinandersetzung mit der Gefahr führte ein Teil der auf dem betroffenen Regionalgremium versammelten Leute und Gruppen. Sie waren nicht dazu berufen worden, aber nachdem sie die Informationen sammelten und auswerteten, legten sie auch Umgangsweisen und Richtlinien fest.
Die folgende zweite und dritte Realität beschreibt die Welten zwischen den Betroffenen des Regionalgremiums. Die Trennung die wir vornehmen trifft nicht auf alle so glatt zu, aber als Tendenz war sie sehr real:

Einige wurden von der Repression überrascht, trotz ihres sehr aufdringlichen Vorhandenseins. Sie hatten sie nicht gegen sich selbst gerichtet begriffen, und obwohl sie Teil der Struktur waren, fühlten sie sich an deren Rand und dachten, die Gegenseite würde ebenso unterscheiden. Selbst wenn sie damit Recht gehabt hätten, zeugte ihr distanziertes Verhalten während der Observationen nicht gerade von Solidarität mit denen, die damit umgehen mußten, daß sie verfolgt wurden, und die sich bemühten, für alle gangbare Lösungen zu finden.
Die sich in der zweiten Reihe fühlten, hatten nicht die Möglichkeit oder wendeten zu wenig Energie dafür auf, vor Ort eine sie schützende Struktur aufzubauen. Das hatte zur Folge, daß sie die Observationen nicht oder kaum bemerkten. Jedenfalls nicht in der Intensität, in der sie stattfanden. Auch sie selbst betreffende Informationen aus anderen Städten änderten kaum etwas an der Verdrängung.
Im Nachhinein sagte einE BetroffeneR, er oder sie hätte unseren Sicherheitsaufwand eh für übertrieben gehalten, und erklärte so sein/ihr teils oberflächliches Verhalten. Jemand anderes gab die sich vor dem 13.6. häufenden Hinweise bevorstehender Razzien zwar brav weiter, übertrug sie aber nicht auf sich selbst. Die Information betrafen ihn/sie wesentlich mehr als die anderen, aber er/sie verzichtete bereits auf die allererste Vorsichtsmaßnahme, die Säuberung der eigenen Wohnung.

Die anderen, die sich dem Problem stellten und den geordneten Rückzug als Struktur diskutierten, bauten um sich herum eine schützende Struktur auf- was aktenkundig ist.
Sie ermöglichte ihnen eine bedingte Weiterarbeit, den Kontakt untereinander, sowie zum nicht betroffenen Teil der Struktur. Der mehr oder weniger vollständige Rückzug, wie ihn andere praktizierten, war ihnen aufgrund ihrer herausragenden Rolle nicht möglich, denn er hätte das endgültige Chaos und ein Zusammenklappen der minimalsten Infrastruktur bedeutet.
Diese Struktur der Gegeninformation und Gegenobservation beinhaltete beispielsweise das Abhören des Bullenfunks. So wußten wir manchmal auf die Minute genau, wann sich die Observationseinheit in Bewegung setzte, um wieviele Autos es sich handelte, oder wann sie die Aktion abbrechen würden.
Über den Bullenfunk erhielten wir Informationen, die uns dabei halfen, den Kreis der Betroffenen einzugrenzen, und die von ihnen angenommenen Verbindungen herauszufiltern. Wir bekamen auch mit, als sie Beobachtungsposten bzw. Kameras gegenüber von observierten Häusern installierten. Die ganze Zeit über waren wir uns relativ sicher - und sind es auch heute noch - dass die Gegenseite nicht wußte, in welchem Ausmaß wir ihr Treiben mitverfolgten, sonst hätten sie sich anders angestellt.
Diesen Vorsprung konnten wir in mehrerlei Hinsicht nutzen. Beispielsweise verlegten wir einen Großteil unserer Aktivitäten in die Zeit ihrer Abwesenheit. Wir präsentierten ihnen einen Tagesablauf, an dem sie ihre Einsätze orientierten. Gingen sie davon aus, dass Treffen bisher immer an Wochenenden stattgefunden hatten, verlegten wir sie in die Woche. Wollten wir uns unbeobachtet mit jemand treffen, taten wir das außerhalb des observierten Tagesablaufs.
Aus Nebensätzen im örtlichen Funk konnten wir sogar feststellen, dass und wo sie außerdem observierten. So konnten auch Gruppen in einer anderen Stadt, die davon nichts mitbekommen hatten, gewarnt werden. Über die Gegeninformation und -Observation konnten wir also zunehmend den Kreis der Betroffenen, das Schema und die Intensität der Observationen einschätzen.

Aber ein Korrektiv fehlte nicht nur innerhalb der Struktur, sondern auch unter all jenen Freunden und Genossinnen, die die Observationen mitbekamen, und uns dabei unterstützten. Darunter befanden sich auch Leute, die über teils umfangreiche Erfahrungen mit den Methoden der Repression verfügten. Sie waren sich darin einig, dass es sich hier um eine großangelegte Aktion handeln müsse, und dass sie früher oder später mit Verhaftungen enden würde.
Aber auch sie konnten sich nur schwer vorstellen, dass ein solcher Aufwand nur wegen einer illegalen Zeitung betrieben wird, denn ähnliches kannten sie nur bei der Fahndung gegen die RAF. Jedenfalls riefen auch sie nicht Halt, und da wir sie als kompetent einschätzten, sahen wir uns noch weniger genötigt, unser Verhalten in Frage zu stellen.
In dieser Phase gab es nur sehr wenige, die die Infos zusammentrugen und Richtlinien für den weiteren Umgang festlegten. Anfangs wendeten sie viel Energie darauf, eine Sensibilität und genauen Umgang bei allen potentiell Betroffenen zu fördern, aber die meisten reagierten genau gegenteilig: sie zogen sich zurück und schlossen teilweise sogar emotional mit dem Projekt ab, während erstere noch im Schlaf damit beschäftigt waren. Statt sich angesichts der Gefahr fester zusammenzuschließen, sich noch mehr aufeinander zu beziehen und Unterstützung zu suchen, drifteten wir in der Vereinzelung auseinander.
Diese Entwicklung war dynamisch und verlief unterschiedlich ausgeprägt. Von einem kollektiven Engagement war wenig zu spüren. Ernüchtert und gefrustet zogen sich auch die ersten schrittweise zurück, und konzentrierten sich zunehmend auf ihre eigenen Aufgaben und den Kontakt zu dem intakten Teil der Struktur. Sie gingen dazu über, ihre Energien zuerst dort einzusetzen, wo sie einen effektiven Nutzen erbrachten.

Bis hierher war die Trennung der drei Realitäten in dieser Deutlichkeit nötig. Aber es würde der Komplexität der Situation nicht gerecht werden, wenn wir nur von Verdrängung, und dabei nur von der Verdrängung einiger sprechen würden.
Bei allen Unterschieden im konkreten Verhalten verdrängten wir auch kollektiv, das heißt wir bestärkten uns auch gegenseitig im oberflächlichen Verhalten.
Als Beispiel haben einige von uns eine Situation vor Augen, die wir nicht konkretisieren müssen, um sie verständlich zu machen. Mehrere aus der Struktur erlebten gleichzeitig einen Vorfall, bei dem allen unabhängig voneinander eine rote Lampe anging. Die spontane Intuition sagte: das sind Bullen.
Nun mag es manchmal schwierig sein, zwischen Intuition und paranoider Angst zu unterscheiden, aber das spielt in dem vorliegenden Fall keine große Rolle. Alle an der Situation Beteiligten schafften es kollektiv, die rote Lampe zu zerreden, und man versicherte sich dabei gegenseitig, dass etliche andere Möglichkeiten in Betracht kämen, auch wenn sie noch so unwahrscheinlich klangen. Diese kollektive Verdrängung funktionierte derart perfekt, dass auch Monate später, als die Observationen längst Gewissheit waren, das beschriebene Ereignis von einigen nicht damit in Zusammenhang gebracht wurde.
Wir können nur darüber spekulieren, ob die eine oder der andere denselben Vorfall nicht so vertuscht hätte, wenn er ihr oder ihm alleine passiert wäre. Allerdings können wir feststellen, dass eine kollektive Verdrängung weitaus gefährlicher ist als eine subjektive: man fühlt mehr, als man denkt, dass die spontane Einschätzung nicht täuscht, aber man will die unangenehme Erkenntnis genausowenig wahrhaben wie alle anderen. In der Konsequenz bestärkt man sich gegenseitig und mindert die eigene Verantwortung, indem man sie als Gruppentendenz wiederfindet. Man beruhigt sich mit dem Schein einer kollektiven Auseinandersetzung, die aber nur dazu führte, die individuellen Zweifel zu unterdrücken.

Das unterschiedliche Verhalten gegenüber den Observationen ist auch nicht allein auf Verdrängung zurückzuführen.
Für einige stand fest: wenn ich observiert werde, lasse ich die Finger gänzlich von subversiven Tätigkeiten. Sie handelten entsprechend, allerdings ohne die Meinung anderer abzuwarten und einen vernünftigen Ersatz für ihre Aufgaben zu besorgen. Andere praktizierten einen differenzierten Ausstieg und definierten genau, was sie kurz- und mittelfristig nicht mehr leisten oder verantworten konnten.
Einige hielten die Produktion neuer Ausgaben in einer solchen Situation für unverantwortlich, andere gerade für nötig, um die Gegenseite durch ein längeres Aussetzen der radikal nicht auf einen Verdacht zu stoßen, den sie vielleicht noch nicht hatte. Einige erwogen einen öffentlichen und offensiven Umgang mit den Observationen, weil über die Zeit immer mehr Leute aus dem privaten und politischen Freundeskreis bekannt wurden - andere waren dagegen, weil sie die Bullen nicht provozieren wollten, solange keine gemeinsame Strategie feststand.

All diese Meinungen, Möglichkeiten und Präferenzen standen im Raum, wurden aber kaum und nicht mehr gemeinsam diskutiert. Im Prinzip bestimmte die Herangehensweise derer, die sich am meisten mit dem Problem auseinander setzen. Einige regten sich darüber im Einzelfall auf, andere übertrugen ihnen gerne die Verantwortung, und während die Zeit verstrich, warteten wir alle zusammen auf die klärende Betriebsversammlung.
An sich liegt es auf der Hand, dass in einer von Observationen betroffenen Struktur nicht mehr alles so weiterlaufen kann wie gehabt. Manche Entscheidungen müssen schnell und zum Teil sofort getroffen werden, ohne eine gemeinsame Diskussion abzuwarten. Hinzu kommt, dass die Möglichkeit der Diskussion im größeren Rahmen stark beschnitten ist, da etliche Leute - ob sie wollen oder nicht - sich aufgrund ihrer Bedingungen zurückziehen müssen, um andere nicht zu gefährden.
Es braucht also eine neue, unabhängig von der bisherigen Arbeitsweise gelagerte Entscheidungsinstanz, deren Vertreterinnen die jeweiligen Situationen vor Ort an einem Punkt zusammenfassen können.
Vor Jahren hatten wir darüber diskutiert, und auch einige organisatorische Dinge für diesen Fall auf den Weg gebracht. Aber die Vorbereitungen blieben stecken, und heute bildete sich die Entscheidungsinstanz wie zufällig aus den Leuten, die die damalige Diskussion noch im Kopf hatten.

Kommen wir zum Ende dieses Kapitels: Wir können als Fehler die nicht vorhandene Vorsorge auf diesen Fall festhalten, was umso schwerer wiegt, da wir prinzipiell nicht erst seit gestern damit rechneten.
Ein weiterer Fehler bestand darin, uns nicht mit allen Kräften der neuen Problematik zu widmen, und stattdessen weiterhin erhebliche Energien - gerade der noch relativ unbelasteten Leute - in die Produktion der radikal zu stecken; wobei wir hinzufügen, dass es aus damaliger Sicht gute Gründe dafür gab.
Ein weiterer Fehler war die zu hohe Bewertung der Ergebnisse aus den Gegenobservationen, denn irgendwann wußten wir genug, um uns viel früher und genauer auf die Durchsuchungen und Verhaftungen vorzubereiten.
Andere Fehler gehen tiefer und bedingen die eben genannten. Da war beispielsweise das schon oft bemühte Verantwortungsgefälle in der Struktur, und vor allem die Tatsache, dass es oft zu Konflikten statt zu einer konstruktiven Auseinandersetzung führte, auf die unseres Erachtens neue und flexiblere Konzepte gefolgt wären.

Was der gemeinsame Beschluss für die Fortführung der radikal Mitte 1993 wert war, zeigte sich besonders deutlich während der Observationen. In der Praxis trennten sich die Wege und nahmen das Ergebnis, die abschließende Bewertung der Probezeit, vorweg: die einen zogen sich eher raus und vermittelten ohne Worte, dass sie diesen Versuch als gescheitert ansahen, die anderen wollten noch immer nicht aufgeben und übertrugen ihren Ehrgeiz sogar auf die neue Herausforderung.

Insofern liegt unser Schlingern durch die Observationen nicht allein an den miesen Kommunikationsbedingungen und der mangelnden Vorbereitung auf diesen Fall, sondern auch an dem zu oberflächlichen Grundkonsens aller Aktiven. Dass dieser Mangel erst angesichts einer existenziellen Bedrohung zum Vorschein kam, und nicht in der gemeinsamen Arbeit, ist für uns die nächste bittere Erkenntnis.

Das Verhalten gegenüber der Repression gründet immer auch in der jeweiligen Persönlichkeit, die damit konfrontiert wird. Das ist kein spezielles Problem der radikal. Immer wieder schwatzen Leute vor Gericht mehr, als ihnen oder anderen gut tut. Und oft genug braucht es die konkrete Erfahrung des Knastes, der erzwungenen Illegalität, der hautnahen Angst vor der Bedrohung, die die Konsequenz des eigenen Handelns bewusst macht.

Wer sich mit diesem System anlegt, muß mit Repression rechnen. Aber was das heißt, ist den wenigsten richtig klar. Wir meinen, daß das Nicht-Ernstnehmen von Observationen einiges mit dem Nicht-Ernstnehmen des eigenen Widerstandes zu tun hat, und da beziehen wir uns selbst mit ein.

Dieser Text als pdf-Datei (75 KB)