Divergenzkritieren und Asymmetrien in der Kriegsführung

Nach den Anschlägen in New York City und Arlington (Virginia) wurde ein Feldzug gegen jene geführt, die sich üblicherweise keiner Schlacht stellen, die keine Front im klassischen Sinne kennen und im Verborgenen agieren. Sie sind wie Geister des Krieges – sie sind überall und nirgendwo. Die Vereinigten Staaten erklärten dem Terrorismus den Krieg und stellten sich zum Kampf. Die amerikanischen GIs kämpften daraufhin zu Lande, zu Wasser und aus der Luft gegen einen Gegner, dem sie in jeder Hinsicht als überlegen galten und doch konnten sie ihn nicht besiegen. Seit Anbeginn der Menschheit hat sich der Krieg nicht verändert. Er ist und bleibt grausam und vor allem asymmetrisch. Die Asymmetrisierung ist der beherrschende Aspekt der Kriegsführung. In keinem Feldzug und keiner Schlacht, gab es jemals eine Symmetrie zwischen den gegnerischen Parteien. Die im öffentlichen Diskurs stattfindende Auseinandersetzung, ob der Krieg gegen Terroristen nun asymmetrisch ist und der Krieg regulärer Streitkräfte symmetrisch ist, ist ein terminologischer Fehlschluss. Symmetrien in der Kriegsführung sind atypisch, und wenn überhaupt, nur im geringsten Maß vorhanden.

Der asymmetrische Krieg teilt sich in der Hauptkategorie in den Kampf ungleicher Gegner (a) und den Aufstand, der sich wiederum in den Militärischen Widerstand (b) und den Terrorismus (c) unterteilen lässt:

a) Der Kampf ungleicher Gegner ist ein Krieg regulärer, zwischenstaatlicher Truppenverbände, welcher nach grundlegenden Normen und Verfahren geführt wird. Der Kampf ungleicher Gegner bietet drei Exit-Optionen und damit die Beendigung des Krieges:

I) Rückkehr zum Status Quo Ante: Beide Seiten einigen sich auf den Status Quo Ante, d.h. auf den vor dem Konflikt

herrschenden Staatsautoritäts- bzw. Territorialzustand. Beispiel: Frieden von Hubertusburg (1763).

II) Einigung auf Status Quo : Der Krieg endet mit der gegenwärtigen Situation. Das Nutzendifferential einer Partei spricht für die Beendigung des Krieges auch unter Inkaufnahme territorialen und politischen Verlustes. Beispiel: Koreakrieg (1950-1953).

III) Totaler Sieg/Totale Niederlage: Die Auseinandersetzung endet mit dem endgültigen Sieg der einen und der Niederlage der anderen kriegführenden Seite. Beispiel: Achsenmächte (1945).

Wird die Niederlage, der Friedensschluss von bestimmten Gruppen nicht akzeptiert oder weitet sich die Unzufriedenheit der Bürger gegen den Staat kann es zu einer Weiterführung des Krieges oder dem Aufbrechen eines neuen kommen:

b) Fortführung des Krieges als Militärischen Widerstandskrieg: Der Militärische Widerstandskrieg ist die Fortführung oder der Beginn der Auseinandersetzungen mit kriegstypischen Mittel und kann sich aus zwei Zuständen entwickeln: aus dem Zustand einer Niederlage der regulären Streitkräfte oder dem Aufkommen politischen Unmutes, der in bewaffneten Widerstand gegen den Staat oder Autorität innehabende Akteurskollektive mündet. Diese Art des Kämpfens hat im Laufe der Geschichte viele Nennungen erfahren: Guerilla, Widerstand, Partisanentum, Freischärler, Waldgänger, Schnappeurs und, um der Neuzeit gerecht zu werden, Insurgenten und Terroristen. Die strikte Trennung zwischen Widerstandskampf und Terrorismus ist nicht leicht zu treffen und oft verschwimmen die Grenzen. Eines ist aber klar festzustellen: Bedienen sich militärische Widerstandskämpfer terroristischen Handlungen und setzen diese gegen die Zivilbevölkerung ein, mutieren sie von verehrten und bewunderten Freiheitskämpfern zu schamlosen und feigen Terroristen.

Zur Konfliktlösung eines militärischen Widerstandes und ebenfalls zur Lösung von Terrorismus gibt es zwei Varianten:

Variante 1: Wurde der Krieg nicht bereits zu Anfang mit präventiven Maßnahmen eingedämmt und wurde er nicht bereits in seinen Ansätzen bekämpft, so ist davon auszugehen, dass man sich mit einer in der Regel langen Auseinandersetzung konfrontiert sieht. Einen Lösungsansatz bietet das WHAMing the people oder auch, korrekt genannt, „Winning Hearts and Minds“-Konzept von Field Marshal Gerald Templer (1898-1979). Es hat sich als richtig erwiesen, dass bei einer humanen Kriegsführung der Widerstand nicht alleine mit militärischer Waffengewalt zu lösen ist. Vielmehr müssen die Maßnahmen der Streitkräfte Hand in Hand mit politischen, wirtschaftlichen und sozialen Anreiz- und Sanktionsmechanismen gekoppelt sein. Der Kampf gegen Widerständler, Terroristen und Guerillas ist zugleich ein Kampf um die Herzen und den Verstand der Bevölkerung.

Variante 2: Nimmt der Widerstand an Ausdehnung und Konzentration zu und werden die Angriffe auf die eigenen militärischen Strukturen (oder beim Terror auch auf die zivilen) heftiger oder bleiben konstant auf hohem Niveau, wird der Ruf nach einer radikaleren Konfliktlösung laut. Die Streitkräfte müssen das Operationsgebiet der Partisanen einkreisen und die totale Vernichtung aller kriegsrelevanten Ressourcen anstreben - total annihilation of the enemy, their supporters and their war relevant materials. Das gesamte Gebiet wird in eine Totenlandschaft verwandelt: Mensch, Tier und Hab und Gut werden der militärischen Eskalation anheim fallen. Gemäß dem Motto: Gefangene werden nicht gemacht! Pardon wird nicht gegeben! Diese Vorgehensweise hat zum Ziel den Widerstand in einer Region vollends zum Zusammenbruch zu zwingen oder zumindest für eine gewisse Zeit auszuschalten. Es muss wohl nicht hervorgehoben werden, dass diese Strategie keine Gnade kennt – nicht vor Frau, Kind und Alter. Dass die total annihilation zu enormen Kriegsverbrechen oder gar zu einem Genozid führt, ist keine Frage.

c) Terrorismus: Der Widerstandskrieg hat mit dem Terrorismus eines gemeinsam: beide streben danach die gegenwärtige Ordnung zu stürzen und eine andere, ggf. die vorgehende, einzusetzen. Terrorismus und Militärischer Widerstand sind als systemzersetzende Organisationsformen zu bezeichnen.

Bezeichnend für beide Formen des Kampfes sind Beweglichkeit, Schnelligkeit, Flexibilität, der Kampf mit vorwiegend kleinen Waffen und eine politische Motivation, wobei der Terror sich vor allem gegen Zivilisten richtet und sich folgendermaßen definieren lässt:

Der Terrorismus ist in erster Linie das gezielte und systematisch durchgeführte gewalttätige Handeln eines Kollektivs gegen nichtstaatliche Einrichtungen und unbewaffnete Zivilisten mit dem Ziel mittels Gewalt Angst und Schrecken zu verbreiten und durch mediale Verstärkung Druck auf den Staatsapparat auszuwirken, um ihre politischen Ziele verwirklichen zu können.

Sextett der Divergenzkritierien:

Die Dimension der asymmetrischen Kriegsführung läßt sich anhand des Sextetts der Divergenzkriterien, die für die erste Phase von Aufständen bezeichnend sind, festmachen:

  1. Quantitative Divergenz: Die aktiven Insurgenten sind auf der strategischen Ebene im Kampf gegen die regulären Streitkräfte zahlenmäßig stets unterlegen.
  2. Qualitative Divergenz: Insurgenten können sich aufgrund ihrer fehlenden Wirtschaftskraft und der Möglichkeit zur Herstellung und Entwicklung von HighTech-Waffen und militärischem Großgerät in der ersten Phase nur auf Kleinwaffen konzentrieren. Die Handhabung mit Kleinwaffen ist ein hervorstechendes Element von Aufständen. Oftmals sind die Waffen der Aufständischen improvisiert oder haben keinen großen Instandhaltungsapparat zur Verfügung.
  3. Strategisch-Taktische Divergenz: Die regulären Streitkräfte, die als Ausbildungsziel einen fassbaren und daher potentiell zu vernichtenden Feind haben, sind mit der Situation der Partisanenbekämpfung meistens überfordert. Strategisch sind die regulären Soldaten überlegen. Taktisch sind sie meistens unterlegen. Kennzeichnend dafür ist die Dislozierung der Front und die überfallartigen Angriffe aus dem Hinterhalt durch die Aufständischen.
  4. Rechtsdivergenz: Reguläre Streitkräfte, insbesondere das Militär von Demokratien und Rechtsstaaten, sind innerstaatlich und international normengebunden und regelgeleitet. Insbesondere Terrorismus entwickelt eigne Handlungs- und Rechtfertigungsmaßstäbe und ist internationalen Normen und Regeln fernbleibend.
  5. Eskalationsdivergenz: Der Kampf zwischen regulären Streitkräften wird oftmals als die ritterliche, und deshalb moralisch vertretbare, Auseinandersetzung bezeichnet. Die Bekämpfung von Aufständen ist nach dieser Auffassung unmoralisch und widerspricht den althergebrachten Traditionen der Kriegsführung. Viel zu oft eskalieren Aufstandsbekämpfungen und führen zu einer regelrechten wechselseitigen Eskalationsspirale von Gewalt und Brutalität, die es im „Ritterkampf“ nicht gibt.
  6. Ökonomische Divergenz: Reguläre Streitkräfte können auf einen erheblichen Teil der staatlichen Ressourcen zugreifen und sind in globalisierte Wirtschafts- und Finanzketten eingebunden, welche eine Divergenz gegenüber Insurgenten generieren. Irreguläre Kollektive sind aus dem offenen internationalen Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen und können Ressourcen nur verdeckt oder über Mittelverbände akquirieren. Es ist ein Fehlschluss zu behaupten, dass ein Aufstand ohne eine staatliche Anlehnungsmacht nicht erfolgreich verlaufen wird oder über einen längerfristigen Zeitraum nicht bestehen kann. Terroristen und Widerstandsgruppen sind in dieser Hinsicht erfolgreiche Überlebenskünstler. Sie finden immer einen Weg zum Bestehen und zur Fortführung ihrer Ziele. Finden sie keine staatliche Anlehnungsmacht, so findet sich eben eine non-staatliche, wie z.B. das organisierte Verbrechen.

Fazit:

Die Anschläge in europäischen und amerikanischen Metropolen, wie z.B. in Madrid, London, New York und die Anschlagsversuche in Deutschland, haben uns vor Augen geführt, dass der Krieg nicht nur in Staaten weit außerhalb unserer Zivilisation und unseres eigenen Wohnzimmers stattfindet, sondern uns genauso in unseren Heimatländern treffen kann. Der Gefahr von außen gesellte sich plötzlich die Gefahr von innen. Schläfer und Islamisten werden an jeder Ecke befürchtet und die Gesellschaft wurde zum potentiellen Feind des Staates. Terrorgesetze, wie das Patriot Act, die Anti-Terrorgesetze Großbritannien oder die unlängst erhobenen Forderungen von Wolfgang Schäuble nach der Umwandlung des deutschen Rechtsstaates in einen Orwell´schen Staat, haben wohl die Menschen vergessen lassen, was es heißt in einem demokratischen Staat zu leben. Die eigene Sicherheit und der Schutz von Hab und Gut – die niedersten Attribute eines homo egoisticus – werden dem höheren Wohl untergeordnet. Zutreffend sagte einmal Benjamin Franklin (1706-1790): „Die, die grundlegende Freiheiten aufgeben, um vorübergehend ein wenig Sicherheit zu bekommen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.“

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