Wer schützt uns vor dem Verfassungsschutz?

Der Verfassungsschutzbericht 2009 warnt vor Linksextremismus und Computerspionage - aber fehlt da nicht etwas?

Jedes Jahr wird vom Bundesamt für Verfassungsschutz, gerne der Einfachheit halber mit "Verfassungsschutz" betitelt, ein Bericht herausgegeben, der akribisch aufschlüsselt, wer warum und in welchem Ausmaß für Deutschland eine Gefahr insofern darstellt, als dass der Verfassungsschutz hier tätig wird oder wurde. Der 324 Seiten umfassende Bericht 2009 behandelt diesmal die Themen "Politisch motivierte Straftaten mit extremistischem Hintergrund in den einzelnen Phänomenbereichen " (wozu neben Rechts- und Linksextremismus ebenso der Islamismus und die "Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern (ohne Islamismus)" zählen), Spionage und sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten.

Nachdem alle diese Felder abgehakt sind, bietet der Verfassungsschutzbericht auch noch einen Einblick in seine Aufgaben und sein Selbstbild. So findet sich im Bericht folgende Aussage:

"Dieses Prinzip [das der Wehrhaften Demokratie] ist durch drei Wesensmerkmale gekennzeichnet:
- die Wertegebundenheit, d.h. der Staat bekennt sich zu Werten, denen er eine besondere Bedeutung beimisst und die deshalb nicht zur Disposition stehen,
- die Abwehrbereitschaft, d.h. der Staat ist gewillt, diese wichtigsten Werte gegenüber extremistischen Positionen zu verteidigen,
und
- die Verlagerung des Verfassungsschutzes in den Bereich der Vorfeldaufklärung, d.h. der Staat reagiert nicht erst dann, wenn Extremisten gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen. Der Verfassungsschutz ist somit ein Frühwarnsystem der Demokratie."

Die Rolle des Verfassungsschutzes für die Demokratie wird noch einmal unterstrichen, indem es heißt:

"Extremismus und Terrorismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt sind für den demokratischen Rechtsstaat eine stete Herausforderung. Die umfassende Bekämpfung aller Formen des politischen Extremismus ist daher ein wesentlicher Schwerpunkt der Innenpolitik und dient zugleich der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts."

Dabei lässt der Verfassungsschutzbericht in seiner Einschätzung und Dokumentation der Gefährdungen jedoch außer Acht, dass Gewalt gerade auch von Seiten der "Staatsorgane" ausgeübt wird und misst dieser Tatsache keinerlei Bedeutung zu. Auch die unrühmliche Rolle des Verfassungsschutzes, z.B. bei der Thematik "mg" (Militante Gruppe), findet im Bericht nur insofern Erwähnung als dass die "Rote Hilfe" unter anderem auch wegen ihrer Unterstützung der wegen Gründung bzw. Mitgliedschaft bei der "mg" ausgespähten "Verdächtigen". Dass das Wort "Verdächtige" hier in Anführungszeichen steht, hat seinen Sinn, denn der Verfassungsschutz versteifte sich bei drei Personen schnell darauf zu glauben, dass jene die "mg" gegründet hatten und gebärdete sich danach, genauso wie BKA und Bundesanwaltschaft, wie jemand, der geradezu besessen ein Ziel verfolgt, das nicht erreicht werden kann. Frei nach Terry Pratchett sahen die drei Überwachungsvorantreibenden hier nur, dass alle Wege nicht nach Ankh-Morpork, aber zu Beweisen für die eigene These führen, ohne zu überdenken, ob sie selbst nicht einfach in die falsche Richtung gingen.

Der Verfassungsschutz, der oft mit den Worten "wer glaube, dass der Verfassungsschutz die Verfassung schützt, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten" beurteilt wird, zeigt sich insofern als eine Institution, die tunnelblickhaft jegliche Selbstkritik außer Acht lässt und deren Einschätzungen, die wie Voreinstellungen bei einem technischen Gerät wirken, dann einen Rattenschwanz an weiteren Einschätzungen und Gefahren mit sich bringen, während andere Thematiken nicht einmal aus dem Augenwinkel bemerkt werden. So wird z.B. beim Thema "Rote Hilfe" zitiert, dass diese die "angebliche Legitimität des politischen Widerstandes" betont.

"Auch und gerade in Zeiten, in denen die Linke sich in schwierigen Situationen befindet und vor neuen Kämpfen steht, ist es wichtig, an die zu erinnern, die Opfer der politischen Justiz werden und mit ihnen solidarisch zu sein. [...] Wenn der Staat sich angegriffen fühlt von fortschrittlichen, emanzipatorischen und frei denkenden Menschen, wehrt er sich mit allen Mitteln, die er hat. ... Trotzdem darf Repression uns nicht lähmen. Repression sollte wütend machen und unsere Bewegung stärken."

Statt diese Worte lediglich als Zeichen für die Gefahr, die von der "Roten Hilfe" ausgeht, zu werten, sind es gerade diese Worte, die bei Verfassungsschutz, BKA, Bundesanwaltschaft, Bundesinnenministerium etc zu Nachdenken führen sollten. Doch stattdessen wird das mehr als fragwürdige Verfahren gegen drei vermeintliche Gründungsmitglieder der "mg" (wie der Verfassungsschutz tatsächlich dazu kam, auf Grund der eher dürftigen Faktenlage davon auszugehen, die Gründer der "mg" gefunden zu haben, bleibt sein Geheimnis) zum nächsten Beweis für die Aufnahme der "Roten Hilfe" in den Verfassungsschutzbericht.

"Die RH unterstützt weiterhin auch militante Linksextremisten. So hatte sich die Organisation von Beginn an in der Solidaritätskampagne für die drei Angeklagten im mg-Verfahren vor dem Berliner Kammergericht engagiert (vgl. Kap. II, Nr. 1.4). Die Urteilsverkündung am 16. Oktober 2009 nahm die RH zum Anlass, erneut scharfe Kritik am Verfahren zu üben. Es habe sich um einen "unfairen Prozess" gehandelt, in dem offenkundig geworden sei, dass der "staatliche Verfolgungswille" für die Verhängung mehrjähriger Freiheitsstrafen keine Beweise oder Fakten benötige."

Tatsächlich hat gerade der Bundesgerichtshof festgestellt, dass die langjährige Überwachung der drei "Verdächtigen" illegitim war, in einem anderen Prozess suchte ein BKA-Beamter vor Gericht das Weite als er nach mehrmaliger Falschaussage eine Manipulation von Beweismitteln zugeben musste, die Verdächtigung und Überwachung von Andrej Holm geht in die nächste Runde und lässt außer vage zusammengestoppelten Indizien wie ähnlicher Sprache usw. auf eine nachvollziehbare Begründung warten. Doch die "mg", die immer mehr wie ein Phantom wirkt, das nicht fassbar sein kann, ist zum Selbstläufer für den Verfassungsschutz geworden.

Wer sich mit den "Verdächtigen" in Prozessen solidarisiert, wird zum Unterstützer von Linksextremen und wandert ebenfalls in die "Verdächtigen"-Rubrik. Damit schafft der Verfassungsschutz immer mehr Platz für Verdächtigungen, Überwachungen und nicht zuletzt seine eigene Legitimation, indem er sich nicht einmal mehr um seine Funktion kümmert, sondern ohne jedes Unrechtsbewusstsein agiert und seine eigenen Verschwörungstheorien strickt, in deren Netz sich dann immer mehr Menschen fangen.

Für den Verfassungsschutz gilt daher dann auch die Einschätzung Pratchetts in Bezug auf den Homo Sapiens:

"Die Gattung Homo Sapiens schien da eine natürliche Begabung zu haben, vielleicht hatte es irgend etwas mit den Genen zu tun. Die Menschen wurden in eine Welt hineingeboren , die Tausende von Problemen für sie bereithielt, und den größten Teil ihrer Energie verwendeten sie darauf, alles noch schlimmer zu machen."

Der Verfassungsschutzbericht ist daher letztendlich ein Bericht, der seine Aussagekraft längst eingebüßt hat und nur für den Verfassungsschutz selbst an Bedeutung gewinnt, für Kritiker ist er, solange nicht auch die Rolle des Verfassungsschutzes und anderer staatlicher Organe in Bezug auf die Gefährdung der Demokratie Aufnahme in ihn finden, letztendlich nur eine Form der Selbstbeweihräucherung und -legitimierung. Die strukturelle Gewalt, der sich die Bevölkerung zunehmend ausgesetzt sieht, ist nicht einmal eine Randnotiz wert und die diversen Kontrollorgane lassen einen nur müde mit den Achseln zucken da es trotz des schlichtweg illegalen Agierens derjenigen, die die Verfassung beschützen sollen, zu keinerlei Sanktionen kommt. Oder um erneut Pratchett zu zitieren:

"Der Fluss hatte es ungefähr so eilig wie eine parlamentarische Untersuchungskommission, die gemütlich durch ein Labyrinth von Bestechungsskandalen schlendert und mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit immer wieder an den Ausgangspunkt zurückkehrt."

Der Verfassungsschutz landet jedenfalls immer wieder bei sich selbst. Dabei bewegt er sich dann auch schon einmal von der Verfassung weg - natürlich nur um sie zu schützen. Für die Bevölkerung bedeutet dies lediglich, dass keiner mehr vor Überwachung und Repression sicher sein kann. Denn für die Einschätzungen des Verfassungsschutzes gibt es oft genug keinerlei rationale Gründe. Jeder ist verdächtig.

Tags: verfassungsschutz