Erklärung der Verteidigung gem. §257 StPO zu den im Selbstleseverfahren eingeführten Dokumenten (Urkundenband I)

Die Lektüre der im Selbstleseverfahren eingeführten Anschlagserklärungen zeigt eindeutig, dass die von der Bundesanwaltschaft angeführte Behauptung einer Autorenidentität mit anderen Anschlagserklärungen nicht zutrifft. Vielmehr wird bei detaillierter Beschäftigung mit den eingeführten Texten deutlich, dass bereits die unter dem Namen „militante gruppe“ veröffentlichten Anschlagserklärungen von verschiedenen Personen geschrieben wurden (s. unter 1).

Eine Betrachtung aller Texte im Zusammenhang ergibt darüber hinaus einige Anhaltspunkte dafür, dass die unter dem Namen „militante gruppe“ begangenen Anschläge nicht alle von derselben Gruppe begangen worden sind (s. unter 2).

1. Die unter dem Namen „militante gruppe“ veröffentlichten Anschlagserklärungen unterscheiden sich untereinander in einer ganzen Reihe von Aspekten so grundlegend, dass sich der Schluss aufdrängt, dass die Texte von einer Vielzahl von verschiedenen Autoren bzw. Autorinnen stammen.

So ist bereits die grundsätzliche Herangehensweise an die Erklärungen von Text zu Text sehr unterschiedlich. Die Texte umfassen die ganze Bandbreite von umfassenden inhaltlichen Erklärungen historischer und hochtheoretischer Art, die über das konkrete Anschlagsziel weit hinausgehen, über die nähere Beleuchtung eines bestimmten politischen Themas anhand eines bestimmten Anschlagszieles, bis hin zu sehr kurzen, bestimmte tagespolitische Ereignisse aufgreifenden und skandalisierenden Texten.

So enthalten beispielsweise die Texte zu den Aktionen gegen das Bezirksamt Reinickendorf vom 5.2.2002 (lfd. Nr. 5) und das Mercedes-Autohaus in Petershagen am 26.2.2003 (lfd. Nr. 8) sehr weite, hochtheoretische Ausführungen ideologischer Gedanken. Lediglich sehr klare, pragmatische Forderungen im Sinne eines bewaffneten Reformismus und der Skandalisierung alltäglicher Ungerechtigkeiten ohne besondere politisch/ideologische Einordnung erfolgen beispielsweise in den Texten zu den Anschlägen auf ALBA Berlin am 29.10.2003 (lfd. Nr. 10) und auf den Privatfahrzeuge von Polizisten am 5.5.2006 (lfd. Nr. 21). Zu der „mittleren“ Kategorie sind z.B. die Texte zu den Aktionen gegen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung am 1.1.2004 (lfd. Nr. 11) oder gegen die Telekom in Wedding am 7.5.2004 (lfd. Nr. 13) zu zählen. Diese beschreiben die konkrete Verantwortlichkeit der angegriffenen Akteure, ordnen diese in den Kontext einen gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ein und stellen darauf bezogene Überlegungen zu Möglichkeiten der Gegenwehr an.

Auch sind einige der Erklärungen sehr bemüht, die Verbindungen zwischen auf den ersten Blick nicht zusammenhängenden Themengebieten aufzuzeigen. Auffällig ist dies etwa beim Text vom Februar 2002 (lfd. Nr. 5), der neben einer Beschreibung der angegriffenen Politik der Sozialämter und der Person des Sozialstadtrats Balzer sich u.a. mit den Themen Geschichte von Arbeit und Ausbeutung in Kaiserreich, Nationalsozialismus und Bundesrepublik, Antisemitismustheorie, NS-Geschichte und -aufarbeitung, Krieg gegen den Terror, Migrationspolitik und Revolutionstheorie beschäftigt. Andere Papiere dagegen beschäftigen sich ausschließlich mit einem bestimmten Thema, das meistens mit der Wahl des Zieles zusammenhängt.

Auch das Sprachniveau ist sehr unterschiedlich: Einige Texte befinden sich auf einem hochwissenschaftlichen Niveau, so etwa die Texte zum Anschlag auf das Finanzamt Neukölln am 1.1.2003 (lfd. Nr. 7) und das Sozialamt Pankow/Arbeitsamt Berlin-Nord am 30.32004 (lfd. Nr. 12). Andere Texte streben ebenfalls ein solches Sprachniveau an, das aber anscheinend das von dem/der Autor/in beherrschte Sprachniveau übersteigt, was in Satzbaufehlern und z.T. falsch verwendeten Fremdwörtern seinen Ausdruck findet. So etwa in der Erklärung vom 22.6.2001, die mit „Anschlagserklärung gegen den Niederlassungszweig der Mercedes-Benz AG“ eingeleitet ist. Weiter heißt es dort: „versuchte der Konzern durch falsche Versprechungen (bspw. hohe Löhne) und anderen Lockangeboten“. In der Firmengeschichte Daimlers wird ein Kontinuitätsstrang ausgemacht: „(Mit-)Täterschaft an Raub und Mord in aller Welt; sei es im damaligen Burenregime in Südafrika, der früheren Militärdiktatur in Argentinien oder dem weltweiten Einsatz von Daimler-Kriegsprodukten wie im neuerlichen Feldzug gegen Jugoslawien.“ Abschließend wird überlegt, wie man „Druck auf einen Industriekonglomeraten ausüben“ kann. Ähnliche Satzbaufehler finden sich etwa in den Erklärungen vom 5.2.2002 (lfd. Nr. 5) und 26.2.2003 (lfd. Nr. 8). Wieder andere Texte bewegen sich bewusst auf einem deutlich weniger komplizierten Sprachniveau und sind direkter und offener formuliert, so etwa der Text zur Aktion gegen ALBA am 29.10.2003 (lfd. Nr. 10) oder das „Glückwunschtelegramm“ zu Brandanschlägen auf Fahrzeuge von Polizeibeamten am 5.5.2008 (lfd. Nr. 21).

Ebenso sind einige Texte spielerisch formuliert oder verwenden Humor/Ironie, flapsige Formulierungen und Wortspiele. So heißt es etwa in dem Text zu der fehlgeschlagenen Sabotage des Benefizspiels für einen im Dienst getöteten Polizeibeamten (9.4.2006, lfd. Nr. 20), dieser habe „den Kürzeren bzw. langsamer gezogen“, der Manager von Hertha Berlin wird als „Managerdarsteller Hoeneß“ und ein Brandsatz als „flammender Präsentkorb“ bezeichnet. Einen ähnlichen Stil hat die als „Glückwunschtelegramm“ bezeichnete Erklärung vom 5.5.2008 zu Brandanschlägen auf Privatfahrzeuge von Polizisten, in der die mg erklärt, sie präsentiere sich „in Geberlaune“ und die Aktion als Reaktion auf die Repression anlässlich der 1.Mai-Demonstration begründet mit dem Resümee „wir können ja nicht viel, aber im „Schiffe versenken“ sind wir einigermaßen erprobt.“

Andere Texte schlagen eher einen sachlich-reflektierenden Ton an – so werden etwa in vielen Texten zum Thema Sozialpolitik/ Hartz IV gesellschaftspolitische und geschichtliche Überlegungen zum Thema Arbeit, Sozialpolitik und Ausbeutung dargestellt und in sachlichem/nachdenklichem Ton überlegt, wie aus revolutionärer linker Sicht am besten darauf reagiert werden kann. Beispiele sind insoweit die Texte zu den Aktionen gegen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung am 1.1.2004 (lfd. Nr. 11) und gegen das Arbeitsamt Berlin-Nord und Sozialamt Pankow am 30. März 2004 (lfd. Nr. 12).

Eine dritte Kategorie von Texten schließlich schlägt einen eher wütenden, skandalisierenden Ton an – so zum Beispiel die Erklärung zu dem Brandanschlag auf einen LKW der Firma ALBA am 29.10.2003 (lfd. Nr. 10) oder die Erklärung zu der Aktion gegen den Neurologen Andreas Blodau und den Leiter der Dessauer Polizeistation, die mit den Worten „Das war Mord!“ eingeleitet wird.

Schließlich zeigt sich auch an manchen textlichen/sprachlichen Besonderheiten, dass die Texte aus verschiedenen Federn kommen. So finden sich etwa sprachliche Besonderheiten wie das Großschreiben der ersten vier Buchstaben des Adjektivs herrschend („HERRschend“), die auf die patriarchale Komponente des herrschenden Systems hinweisen sollen, oder die geschlechtsneutrale Formulierung „wer/welche“ nur in einigen Texten („HERRschend“: lfd. Nr. 5, 11; „wer/welche“: lfd. Nr. 20, 23), in anderen dagegen nicht.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es in der Linken Gruppen gibt, die als Zeichen Ihrer Kritik am Patriarchat geschlechtsneutrale Formulierungen benutzen; andere tun dies nicht. Was es nicht gibt, ist, dass einheitliche Gruppen einmal geschlechtsneutrale Formulierungen benutzen und einmal nicht. Die Entscheidung hierzu ist eine grundsätzliche. Sie kann zwar nach entsprechenden Diskussionen in die eine oder andere Richtung revidiert werden, aber eine Beliebigkeit im Sinne von „heute so und morgen anders“ ist empirisch ausgeschlossen.

Schließlich zeigt sich die fehlende Autorenidentität sogar an Details wie der Umsetzung der Rechtschreibreform – in der Anschlagserklärung vom 8.11.2005 (lfd. Nr. 17) taucht in der Parole „für einen revolutionären Aufbauprozess“ das erste Mal die neue Rechtschreibung mit zwei s auf; in den nächsten Erklärungen dagegen heißt es zunächst wieder „Aufbauprozeß“ mit ß (lfd. Nr. 18, 19), ab der Erklärung vom 9.4.2006 (lfd. Nr. 20) dann wieder mit ss.

Fazit: Eine Betrachtung der grundsätzlichen Herangehensweise an Anschlagserklärung, des verwendeten Sprachniveaus und diverser charakteristischer Details zeigt, dass die unter dem Namen „militante gruppe“ veröffentlichten Anschlagserklärungen von einer Vielzahl von Personen verfasst wurden. Diese Kriterien dürften auch ausschlaggebender sein als etwa die Verwendung bestimmter Wörter, die in linken Theoriekreisen und/oder in früheren Anschlagserklärung verwendet werden und wurden – diese Gemeinsamkeit beweist allenfalls ein Von-Einander-Abschreiben im Detail, während die hier betrachteten Charakteristika von Texten individuell und nur schwer „abstellbar“ sind.

2. Eine weitergehende Analyse deutet sogar darauf hin, dass die verschiedenen Autorinnen/Autoren der Texte sogar in verschiedenen organisatorisch und inhaltlich eigenständigen Gruppen organisiert sein dürften.

Dies zeigt sich etwa in der Bezugnahme auf andere Anschläge, die unter dem Namen „mg“ begangen wurden. So finden sich zwar in vielen Papieren Bezugnahmen auf andere Anschläge. Dies jedoch beweist allenfalls, dass die Gruppe, die die jeweils letzte Erklärung schrieb, Kenntnis von den vorhergehenden Anschlägen und ihrer Zuordnung unter den Gruppennamen „militante gruppe“ hatte. Andererseits finden sich aber gerade insoweit auch einige Erklärungen, bei denen Bezugnahmen, die für eine einheitliche Gruppe nahezu zwingend wären, fehlen.

Einige Beispiele: In der Erklärung zum Brandanschlag auf eine Daimler-Chrysler Niederlassung am 22.6.2001 (lfd. Nr. 3) ist ein zentrales Thema die NS-Geschichte der Firma und der Stand der Debatte um die Entschädigung von ZwangsarbeiterInnen. Einige Monate später, an 28.4.2002, wird ein ganz ähnlicher Anschlag auf eine weitere Daimler-Chrysler-Niederlassung begangen; dieser Text aber bezieht sich v.a. auf den US-Imperialismus, Krieg und Rüstung, die NS-Vergangenheit Daimlers wird nur ganz am Rande gestreift (lfd. Nr. 4), der Anschlag vom 22.6.2001 wird gar nicht erwähnt.

Der Anschlag vom 30.3.2004 (lfd. Nr. 12) soll eine militante Kampagne gegen Hartz IV einleiten. Es folgen dann auch in schneller Folge weitere Anschläge, die dieses Thema betreffen. Angesichts der Relevanz, die in linken Diskussionen der genauen Formulierung abschließender Parolen beigemessen wird, wäre bei einer einheitlichen Gruppe zu erwarten gewesen, dass man für die verschiedenen Anschläge im Rahmen dieser Kampagne eine einheitliche Parole entwickelt hätte. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: In der Erklärung zum Anschlag auf die Telekom vom 6.5.04 (lfd. Nr. 13) heißt es

„Kampf der Sozialtechnokratie – (militante) Kampagne gegen „Hartz IV“/ALG II entwickeln!“;

im Text zum Anschlag vom 23.9.2004 (lfd. Nr. 14) auf das Sozialamt Tempelhof-Schöneberg lautet die Parole

„Kampf der Sozialtechnokratie – Hartz IV/ALG II und AsylbLG sabotieren!“,

im Text zum Anschlag auf den Rohbau eines LIDL-Marktes am 10.1.2005 (lfd. Nr. 15) findet sich gar kein Bezug auf Hartz IV, obwohl sich der Text inhaltlich auch mit den Themen Sozialpolitik, Präkarisierung etc. beschäftigt, stattdessen lautet die Parole

„Hungerlohnpolitik, Abbau von Gewerkschaftsrechten und betriebsinterne Repression bei LIDL angreifen!“;

in der Erklärung zum Anschlag auf u.a. die Arbeitsagentur Potsdam (lfd. Nr. 16) schließlich findet sich, trotz eines ganz eindeutigen Bezugs auf die Anti-Hartz IV-Kampagne, überhaupt keine Parole zum Thema Hartz IV.

Schon diese sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzung und inkonsequente Anknüpfung an vorherige Aktionen deutet darauf hin, dass es sich bei der „militanten gruppe“ in Wirklichkeit um inhaltlich wie logistisch selbstständig arbeitende Gruppen handelt. Ein noch deutlicherer Hinweis findet sich insoweit in zwei etwas später veröffentlichten Erklärungen: Am 20.12.2006 erfolgt unter der Überschrift „Das war Mord“ ein Angriff auf die Häuser von zwei Personen, denen die Tötung des Flüchtlings Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle vorgeworfen wird (lfd. Nr. 25). Wenige Wochen später, am 15.1.2007, folgt ein erneuter Anschlag zum Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik, diesmal gegen Fahrzeuge der Bundespolizei, nachdem diese im Rahmen einer Verfolgungsjagd den Tod mehrerer Flüchtlinge verursacht hatte. Die Erklärung hierzu (lfd. Nr. 26) enthält einen Verweis auf eine frühere Aktion gegen den Bundesgrenzschutz vom 4.9.2006. Weiter heißt es dann

„Der Mord an Oury Jalloh in einer Dessauer Bullenwache von vor zwei Jahren ist in den letzten Wochen aufgrund unterschiedlicher Aktionsformen wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt worden. Dieses Beispiel zeigt, dass durch das solidarische Zusammenwirken verschiedener Protest- und Widerstandspraxen konkrete Ergebnisse einer antirassistischen Mobilisierung erzielt werden können. Daran wird weiter anzuknüpfen sein, wenn es gelingen soll, die Mörder Blodau, Schubert und März nicht davonkommen zu lassen.“

Der nahe liegende, für eine einheitliche agierende Gruppe geradezu zwingende Verweis darauf, dass zu diesen „unterschiedlichen Aktionsformen“ auch eine Aktion der mg gehört, fehlt jedoch völlig. Diese Unterlassung lässt sich damit erklären, dass der ausführenden Gruppe bei der Verfassung ihrer Erklärung die Erklärung zu der Aktion vom 20.12.2006 noch nicht vorlag – beide Erklärungen wurden zeitgleich in der interim Nr. 657 vom 21.6.07 veröffentlicht.

Bereits jetzt sei darauf hingewiesen, dass diese Annahme der Verteidigung, dass „die militante gruppe“ in Wirklichkeit aus mehreren inhaltlich wie logistisch getrennt agierenden, nur in einem losen Diskussionszusammenhang stehenden Gruppen bestand, auch durch weitere im Einzelnen noch einzuführende Texte aus der sog. Militanzdebatte gestützt wird. Diese werden ggf. an geeigneter Stelle in die Hauptverhandlung eingeführt werden.

Rechtsanwalt

Erklärung der Verteidigung nach § 257 StPO zu den im Selbstleseverfahren eingeführten Dokumenten (Urkundenband I) – hier zum Aspekt „Verschickung von Patronen“

Eine genaue Lektüre der Erklärungen zu den Aktionen der militanten gruppe/n (im Folgenden mg) zeigt, dass das Mittel der Versendung von Patronen keine Androhung von konkreten Anschlägen auf Personen ist und die mg auch solche Anschläge nicht konkret diskutiert/diskutieren. Vielmehr dient die Versendung von Patronen vor allem als symbolisches Mittel der Skandalisierung und Erlebbarmachung struktureller Gewalt.

Die mg hat/haben zu drei Gelegenheit Patronen versandt bzw. hinterlegt, nämlich am 12.6.2001 an Repräsentanten der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ sowie am 5.2.2002 und 23.9.2004 an leitende Mitarbeiter der Sozialämter. Den genannten Personen ist gemeinsam, dass sie durch bürokratische bzw. politische Entscheidungen dafür verantwortlich sind, dass einer großen Anzahl von Menschen ihre Lebensgrundlage beschnitten wird. Dadurch, dass dies aber in einem institutionellen Rahmen erfolgt, wird die persönliche Verantwortung für das verursachte Leid verschleiert. Diese Verschleierung führt dazu, dass in der allgemeinen Wahrnehmung nur eine übermächtige Bürokratie wahrgenommen wird, hinter der sich die Entscheidungsträger mit ihrer individuellen Verantwortung verstecken. Dies wird in den Erklärungen der mg angesprochen und aufgegriffen.

Die Versendung von Patronen an die Akteure struktureller Gewalt dient dann dazu, dieses Bild zu durchbrechen, indem ganz brachial Symbole unmittelbarer körperlicher Gewalt in das Zentrum der Betrachtung gerückt werden. Den Betroffenen soll auf besonders drastische Weise gezeigt werden, dass sie Verantwortung für die Zerstörung des Lebens von Menschen tragen. Strukturelle Gewalt soll sichtbar gemacht und ihre ganz konkreten Folgen für das Leben von Betroffenen sollen erlebbar/denkbar gemacht werden, indem auf strukturelle Gewalt mit einem deutlichen Symbol direkter Gewalt geantwortet wird.

Dass dies die Zielsetzung entsprechender Aktionen ist, zeigt sich schon an Formulierungen in den betreffenden Erklärungen selbst. So wird in der Erklärung vom 12.6.2001 die Versendung von Patronen ausdrücklich als „Diskussionsanregung“ bezeichnet. In der Erklärung vom 23.9.2004 wird flapsig von einer „kleinen Anerkennung“ gesprochen. Außerdem wird die Versendung von Patronen – auch im Rückblick auf die beiden vorherigen Aktionen – als „Form der Kommunikationsguerilla“ bezeichnet. Der Begriff „Kommunikationsguerilla“ steht in der radikalen Linken für rein kommunikative Aktionen, die durch ein Ausbrechen aus dem Rahmen der bekannten Aktions- und Kommunikationsformen Verwirrung stiften mit dem Ziel, beim Gegenüber Nachdenkprozesse und das Hinterfragen vermeintlicher Selbstverständlichkeiten auszulösen.

Konkret beschreibt die Erklärung vom 23.9.2004 ein zentrales Ziel der Aktion wie folgt:

„[…] möchten wir sozialtechnokratischen Akteuren wie Krömer in „geballter“ Form präsentieren, was es heißt existenzielle Ängste zu haben. Die Ängste vor Armut und sozialer Verelendung haben konkrete Auswirkungen.“

In diesem Zusammenhang sind auch die Hinweise auf einzelne Taten wie Angriffe auf Arbeits- und Sozialamtsmitarbeiter durch verzweifelte Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen zu verstehen.

Auch die weiteren Erklärungen der mg zeigen, dass diese keine konkreten Anschläge auf Menschen plant/planen, sondern dass sie vielmehr im Sinne einer revolutionären Ethik gerade darauf bedacht ist/sind, schon die Gefährdung von Menschen zu vermeiden. So wurden in mehreren Fällen Brandsätze an einer „ineffektiven“ Stelle abgelegt, um die Gefährdung von Menschen zu vermeiden – so etwa bei der Brandsetzung im Gebäude des Oberlandesgerichts Naumburg, wo eine Gefährdung des dort wohnenden Hausmeisters vermieden werden sollte, oder bei der Aktion vom 20.12.2006 gegen den Neurologen Andreas Blodau, wo zur Vermeidung der Gefährdung von Menschen der Brandsatz „nur“ an einer Garage gezündet wurde. Zum Teil wurde sogar auf das Zünden eines Brandsatzes ganz verzichtet und statt dessen auf das – nicht besonders militante – Mittel von gesprühten Parolen zurückgegriffen, so etwa am 20.12.2006 beim Leiter des Dessauer Polizeireviers, Andreas Schubert.

Dieses Verständnis von revolutionärer Ethik zeigt sich, das sei hier bereits vorausgeschickt, auch in anderen Erklärungen der mg, die noch nicht im Einzelnen in den Prozess eingeführt sind. Ein Beispiel ist der Text „Zum Interim-Vorwort der Nr. 611 vom 10.2.2005“ vom 15.2.2005, der detailliert und in selbstkritischer Weise auf die mögliche Gefährdung eines Bauarbeiters bei der Inbrandsetzung des LIDL-Neubaus im Januar 2005 eingeht.

Darüber hinaus wird in mehreren Erklärungen dargelegt, dass selbst eine Störung von Menschen durch Anschläge auf Sachen möglichst vermieden werden soll.

So heißt es etwa in der Erklärung zur Brandlegung im Bezirksamt Reinickendorf am 5.2.2002:

„In diesem [dem angegriffenen] Gebäudeteil befinden sich also keine Büroräume; in denen die sozial Deklassierten des Bezirks Anträge auf Sozialhilfe oder sonstige Leistungen stellen.“

Die geplante Aktion gegen das Benefizspiel für einen im Dienst getöteten Berliner Zivilpolizisten am 9.4.2006 ist sogar an solchen Überlegungen gescheitert, wie sich aus dem „Nachtrag“ zur Anschlagserklärung ergibt. Danach musste die für die Morgenstunden des geplanten Spiels vorgesehene Aktion wegen Anwesenheit von Wachkräften abgebrochen werden. Weiter heißt es:

„Es hätte die Option bestanden, bereits von Freitag auf Samstag zur Tat zu schreiten, allerdings hätten wir dann völlig Unbeteiligten das normale Ligaspiel zwischen Tasmania-Gropiusstadt und dem Köpenicker SC versaut. Daran hatten wir kein Interesse. Deshalb, und weil wir so zeitnah wie möglich zum eigentlichen „Event“ agieren wollten, legten wir unseren Aktionstermin auf die frühen Morgenstunden des Sonntags.“

Auch diesen Aspekt revolutionärer Ethik vertritt/vertreten die mg auch in der Diskussion mit anderen Gruppen sehr offensiv. Auch hier sei bereits auf einige Beispiele aus Texten verwiesen, die im Einzelnen noch einzuführen sind. So wird etwa im Text „Dementi & ein bisschen Mehr“ vom 13. Oktober 2006 die Praxis des Anzündens von „Nobelkarossen“ durch andere Gruppen scharf kritisiert. Ähnlich scharf wird in dem Text „Zur „Roggan“-Anschlagserklärung der autonomen gruppen“ vom 3. Juni 2006 ein Brandanschlag auf Fahrzeuge eines Umzugsunternehmens kritisiert – und das, obwohl konstatiert wird, dass dieses Unternehmen für Zwangsumzüge in Folge der Hartz-IV-Gesetzgebung mitverantwortlich ist und dass bei diesem Unternehmen wahrscheinlich mehrere Neonazis arbeiten.

Weiter zeigt sich die symbolische Zielsetzung der Patronenverschickung als Form der Sichtbarmachung struktureller Gewalt bei einem Vergleich mit anderen Aktionen, die sich gegen konkrete Personen richten. Ein besonders deutliches Beispiel ist der Anschlag vom 20.12.2006 gegen den Neurologen Andreas Blodau und den Leiter des Dessauer Polizeireviers, Andreas Schubert. Im Gegensatz zu den Akteuren aus Sozialämtern oder der Stiftungsinitiative wird diesen Personen eine ganz unmittelbare Verantwortung für den Tod des Flüchtlings Oury Jalloh vorgeworfen – die Erklärung beginnt mit dem Satz „Das war Mord!“ Gleichzeitig aber sind die konkreten Anschlagsmodalitäten viel weiter von den Personen selbst entfernt – es wird ein Brandsatz an einer Doppelgarage gezündet und an einem Haus werden Parolen gesprüht.

Auf eine sehr viel unmittelbarere Form der von angegriffenen Personen ausgeübten Gewalt reagiert/reagieren also die mg mit einer umso mittelbareren Aktionsform. Das zeigt, dass die Patronenverschickungen eben keine Todesdrohungen sind, sondern der besonders drastische Versuch der Verschiebung von Diskussionsebenen und des Erlebbarmachens der Folgen struktureller Gewalt.

Ganz zuletzt ist noch auf die schlichte Tatsache hinzuweisen, dass die mg nach dem 23.9.2004 noch eine ganze Reihe von Anschlägen begangen hat/haben, dabei aber eben nicht mehr mit dem Mittel der Patronenverschickung gearbeitet hat/haben.

Rechtsanwalt

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