Wissenschaftler im Visier der Linksterror-Fahnder

Die Bundesanwaltschaft hat den Berliner Andrej H., 36, verhaftet. Vorwurf gegen ihn und zwei weitere Wissenschaftler: Er sei Vordenker der linksextremistischen "militanten gruppe". Völlig absurd, sagen Verteidiger und Kollegen. Von Philipp Wittrock

Hamburg/Berlin - "10 Uhr, Andrej", hatte sich die Berliner Soziologin für den Dienstag dieser Woche in ihrem Terminkalender notiert. Ein Fachgespräch über soziale Umstrukturierungsprozesse in deutschen Städten sollte es werden. Doch ihr sonst so zuverlässiger Kollege von der Uni tauchte nicht auf. Als die Privatdozentin nach einer Viertelstunde bei ihm zu Hause anrief, richtete dessen bedrückt klingende Lebensgefährtin nur aus: "Andrej kann heute nicht."

Den Grund der Verhinderung erfuhr die Wissenschaftlerin erst heute - sie fiel aus allen Wolken: Andrej H., 36, sitzt seit Dienstag in Untersuchungshaft.

Auf Antrag der Bundesanwaltschaft hatte gestern der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof Haftbefehl erlassen. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in der linksterroristischen Vereinigung "militante gruppe (mg)". Ein Verdacht, den die Kollegin gar nicht nachvollziehen kann. "Absurd" findet sie die Umstände der Verhaftung. Seit rund zehn Jahren arbeite sie mit dem Stadtgeografen zusammen, sagt sie und wiederholt noch einmal: "Es ist einfach absurd."

Neben Andrej H. waren am Dienstag in den frühen Morgenstunden drei weitere Männer festgenommen worden (mehr...). Florian L., 35, Oliver R., 35 und Axel H., 46, sind dringend verdächtig, in jener Nacht versucht zu haben, in Brandenburg drei Lastwagen der Bundeswehr in Brand gesetzt zu haben. Die Polizei soll das Trio dabei erwischt haben, wie es auf dem Gelände der Firma MAN Brandsätze unter den Fahrzeugen deponierte - gerade noch rechtzeitig seien sie gelöscht worden.

Die Ermittler rechnen auch die drei Männer aus Berlin der "militanten Gruppe" zu. Nach Hausdurchsuchungen bei weiteren Beschuldigten in der Hauptstadt kam es dann zur Festnahme von Andrej H.

Brandanschläge seit 2001

Der Anschlagsversuch vom frühen Dienstagmorgen weist laut Bundesanwaltschaft "eine Vielzahl von Parallelen" zu anderen Anschlägen auf, zu denen sich die "mg" seit 2001 bekannt hat. Ziel der linksextremistischen Gruppierung sei es, "die gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen zugunsten einer kommunistischen Weltordnung zu beseitigen". Allein 2006 sollen acht Anschläge auf das Konto der "mg" gegangen sein, darunter einer auf das Gebäude des Polizeipräsidiums in Berlin-Tempelhof.

Die Anwälte der nun Beschuldigten reagieren mit scharfer Kritik auf die Festnahmen. In einer gemeinsamen Erklärung weisen die Juristen den Terrorismus-Vorwurf als "höchst spekulativ" und "nicht haltbar" zurück. Die Haftentscheidungen des Ermittlungsrichters nennen sie "skandalös".

Den drei in Brandenburg festgesetzten Männern könne allenfalls versuchte Brandstiftung vorgeworfen werden. Der jetzt angewandte Terrorismus-Paragraf 129a setze dagegen Straftaten voraus, mit denen der Staat "erheblich geschädigt" werden solle, sagt Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck.

Für einen Haftbefehl hätte die versuchte Brandstiftung allein kaum ausgereicht. Die Beschuldigten wären mangels Fluchtgefahr auf freiem Fuß geblieben.

Für Kaleck fußt der Terror-Vorwurf der Bundesanwaltschaft zu einem großen Teil auf der angeblichen Verbindung des Brandstifter-Trios zu dem Wissenschaftler, der angeblich der Tat einen theoretischen Überbau geben sollte. Diese Verbindung beschränkt sich aber offenbar auf zwei Treffen zwischen Florian L. und Andrej H. im Februar und April.

In einer Erklärung der Bundesanwaltschaft ist von "umfassenden konspirativen Kontakten" die Rede. Erkenntnisse über den Inhalt der Treffen sollen die Ermittler nach Angaben der Verteidiger nicht haben.

"Anspruchsvolle Texte" der Linksextremen


Neben Andrej H. hatten die Fahnder bei ihren Ermittlungen in dieser Woche noch weitere Wissenschaftler im Auge - darunter den Leipziger Sozialwissenschaftler Matthias B., der eng mit Andrej H. beim Thema Stadtgeografie zusammenarbeitet. B. weilt im Urlaub. Haftbefehl erging gegen ihn nicht, genauso wenig gegen zwei weitere Beschuldigte aus Berlin.

Als Verdachtsmomente gegen B. führen die Karlsruher Strafverfolger nach Angaben der Verteidiger unter anderem an, dass ein 1998 von ihm veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel "Schlagwörter und Phrasen" enthalte, "die in Texten der 'militanten(n) Gruppe (mg)' gleichfalls verwendet werden". Die Häufigkeit der Übereinstimmung sei "auffallend und nicht durch thematische Überschneidungen erklärlich". Außerdem sei er als promovierter Politologe "intellektuell in der Lage, die anspruchsvollen Texte der 'militante(n) Gruppe (mg)' zu verfassen".

Die Botschaften, die die "mg" bei früheren Anschlägen am Tatort hinterließ und in denen Verfassungsschützer schon mal den alten Geist der RAF erkannten, handelten stets vom Kampf gegen die "Symbole des Kapitalismus", den Imperialismus und den "repressiven Staat". Nach einem Brandanschlag auf Büros in Berlin bezogen sich die Linksextremisten ausdrücklich auf ein umstrittenes kapitalismuskritisches Grußwort des inhaftierten Ex-RAF-Terroristen Christian Klar.

Bibliothekszugang als Verdachtsmoment

Auch grundlegende wissenschaftliche Ressourcen kommen den Ermittlern an den Akademikern verdächtig vor. Einem der Sozialwissenschaftler stünden dank seiner Tätigkeit "Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen", zitieren die Verteidiger aus der Argumentation der Bundesanwaltschaft. "Das gilt ja wohl für jeden Wissenschaftler", sagt Anwalt Kaleck. Für ihn und seine Verteidigerkollegen sind die angeführten Verdachtsmomente "an Absurdität kaum zu überbieten".

Die Ermittler stehen im Fall der "militanten gruppe" dagegen unter Fahndungsdruck. Nach mehr als zwei Dutzend militanter Aktionen vor allem im Großraum Berlin sind die vier Festnahmen die ersten überhaupt in der Sache. Selbst eine Großrazzia vor dem G-8-Gipfel, bei der auch die "mg" ein Ziel war, brachte keinen Erfolg.

Die jetzt festgesetzten Verdächtigen hatten die Fahnder seinerzeit offenbar noch nicht im Visier.