Neun Worte - ein Terrorverdacht

Berlin. Die Verhaftung des Berliner Wissenschaftlers Andrej H. vor vier Wochen basiert offenbar auf dünneren Beweisen als bislang bekannt. Nach FR-Informationen begründet das Bundeskriminalamt (BKA) den Vorwurf des Linksterrorismus gegen H. und drei seiner Kollegen unter anderem damit, dass sie in einem fast zehn Jahre alten Artikel Begriffe wie "drakonisch" und "marxistisch-leninistisch" verwandten. Verteidiger Wolfgang Kaleck sagte am Donnerstag der FR: "Das Ganze wäre ein schlechter Scherz, wenn er nicht Menschen hinter Gitter gebracht hätte."VON JÖRG SCHINDLER

Der Berliner Soziologe Andrej H. war Anfang August als mutmaßliches Mitglied der "militanten gruppe" (mg) verhaftet und für drei Wochen ins Gefängnis gesteckt worden. Trotz etlicher, auch internationaler Proteste ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen ihn sowie drei Wissenschaftler und Publizisten wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung. Der Bundesgerichtshof (BGH) will frühestens am 5. Oktober entscheiden, ob er die Voraussetzungen dafür noch gegeben sieht.

Nach bisheriger Aktenlage gerieten die vier Beschuldigten im Sommer 2006 ins Visier des BKA. Dort hatte man zu dem Zeitpunkt bereits fünf Jahre gegen die "militante gruppe" ermittelt, ohne je Verdächtige verhaften zu können. Bei einer Internetrecherche stieß die Abteilung Staatsschutz dann jedoch auf einen Artikel in der linken Zeitschrift Telegraph aus dem Jahr 1998, der sie aufmerken ließ. Der Text befasst sich mit der Entwicklung der Krisenprovinz Kosovo. Er weist nach Ansicht der Ermittler eine "Vielzahl" von Übereinstimmungen mit Bekennerschreiben und Publikationen der mg zwischen 2002 und 2006 auf.

Im Untergrund

Nach einer akribischen Auswertung glaubte das BKA, eine identische Autorenschaft nachweisen zu können. Nach FR-Informationen handelt es sich jedoch im Wesentlichen um neun Wörter, die hier wie da vorkommen - darunter "Reproduktion", "implodieren", "politische Praxis" und eben "marxistisch-leninistisch". Auf diese Weise, sagt Anwalt Kaleck, "könnte man auch Karl Marx unter Terrorverdacht stellen".

Abgesehen hatten es die Fahnder jedoch auf den Autoren des Kosovo-Artikels, einen promovierten Politologen aus Leipzig. Über dessen Tätigkeit beim Telegraph kamen sie wohl schnell auf drei weitere Wissenschaftler und Publizisten - darunter den jüngst verhafteten Andrej H. Allen vier werden nach Auskunft ihrer Anwälte "vielfältige Kontakte" in die linksextremistische Szene nachgesagt. Mindestens zwei sollen zudem "konspirative" Kontakte zu mutmaßlichen mg-Mitgliedern gehabt haben. Weniges davon werde jedoch in den Akten präzisiert, etliches basiere auf "abenteuerlichen Mutmaßungen". Bei der Bundesanwaltschaft und beim BGH sah man das anders: Die Textauswertung und die Kontakte reichten aus, um am 6. September 2006 ein Ermittlungsverfahren gegen die Wissenschaftler einzuleiten.

Seither wurden die vier offenbar rund um die Uhr beschattet - Anlass für einen Zugriff boten sie fast ein Jahr lang nicht. Anfang August nahm die Polizei jedoch in Brandenburg drei Männer fest, die versucht haben sollen, Lastwagen der Bundeswehr in Brand zu stecken. Da sich einer von ihnen fünf Monate zuvor mit Andrej H. getroffen haben soll, wurde dieser ebenfalls verhaftet. Dem Terrorvorwurf sehen sich seither insgesamt sieben Personen gegenüber. Die drei mutmaßlichen Brandstifter sitzen noch immer in Haft.

Der als Anlass für die Ermittlung dienende Artikel indes dürfte im weiteren Verfahren keine große Rolle mehr spielen: Bereits im April 2007 kam das Kriminaltechnische Institut des BKA in einem Gutachten zu dem Ergebnis, dass es zwischen dem Telegraph-Text von 1998 und den mg-Schreiben keine "aussagekräftigen Übereinstimmungen" gebe. Das jedoch, so die Verteidiger, sei in dem Antrag auf einen Haftbefehl gegen Andrej H. wohlweislich verschwiegen worden. Eine Stellungnahme der Bundesanwaltschaft war am Donnerstag nicht zu bekommen.