Neue radikal Nr. 161 erschienen

Anfang Juli 2009 erschien die 161. Ausgabe der »radikal«, einer Zeitung mit einer langjährigen und vielfältigen Geschichte. »Es liegt in der Natur der Radikal, dass sie sich nicht einstampfen und verbieten lässt«, schreibt das Redaktionskollektiv und titelt: »Da ist sie wieder«. Immer wieder gab es in ihrer über 30-jährigen Existenz mehr oder weniger lange Erscheinungspausen und Reorganisationsprozesse. Und immer wieder freute sich die radikale Linke über die neue Ausgabe, nicht zuletzt, weil den Repressionsbehörden wieder mal ein Schnippchen geschlagen wurde. Auch dieses Mal war das Interesse an der neuen Ausgabe schnell geweckt und sowohl subversive Freude als auch Kritik vernehmbar.

In der Vergangenheit bediente die radi eine breite Themenpalette: Von linker Geschichte und Organisierung, über Antifa, Frauen und Internationalismus, über Stadtguerilla und Leben in der Illegalität bis hin zu sogenannten Praxisteilen. In dieser thematischen Tradition steht zu großen Teilen auch die neue Ausgabe. In der Nummer 161 geht es um die Geschichte von Weather Underground (USA), um militante Organisierung und Prinzipien sowie um Stencil (mit Schablonen hergestellte Wandbilder) als Agitprop-Aktion. Eine Dokumentation militanter Aktionen aus dem ersten Halbjahr 2009 runden die aktuelle Ausgabe ab.

Nach zweieinhalb Jahren signalisiert die radi mit ihrer neuen Ausgabe: Der Kampf geht weiter. Das ist zunächst einmal beifallswürdig, weil - ganz generell - das Verstummen eines politischen Projekts der Bewegung schadet, die es als ihr Projekt versteht. Denn wer nicht mehr präsent ist, wenn der Staat angreift, wird nicht mehr ernst genommen, weil er sich selbst nicht ernst nimmt. Er opfert seine politische Zielsetzung der Repression und dem eigenen davonkommen. Das ist alles andere als vorbildlich und hat Entpolitisierung, Rückzug und weitere Auswirkungen auf politische Aktivistinnen und Aktivisten zur Folge.

In der Vergangenheit hatte Repression gegen mutmaßliche radi-Redakteure das Interesse an der Zeitung (wieder) geweckt und ihr meist zu einem neuen Aufschwung verholfen. Seit die radi verdeckt produziert wird lehnt sie es mit wenigen Ausnahmen allerdings ab, zu Ausmaß und Folgen der Repressionen ausführlich Stellung zu beziehen. Weder die alte noch die neue Redaktion ergriffen bisher dazu das Wort, obwohl nur sie Licht ins Dunkel bringen können.

In der radi hat sich auch die militante gruppe wieder zu Wort gemeldet. Die Genossinnen und Genossen entrissen den Bundesanwälten, Kriminalkommisaren und anderen die Hoheit der Geschichtsschreibung zur militanten Linken und nahmen sie wieder in die eigenen Hände. Wie in vergangenen Ausgaben veröffentlichte die radi einen Text der militanten gruppe und ein Interview, das die radi mit der mg im Mai 2009 schriftlich führte. Es ist nach zwei Jahren das erste und wahrscheinlich auch das letzte Lebenszeichen der mg. Sie hat darin ihre Selbstauflösung erklärt.

Nach der Verhaftung von vier Aktivisten im Juli 2007 wurde eine Erklärung der mg erwartet, aber die Gruppe schwieg. Drei der Verhafteten wurden angeklagt und vor Gericht gestellt. Der Prozess gegen sie läuft seit September 2008. Insofern erscheint die Veröffentlichung zu einem unerwarteten Zeitpunkt. Vor einer öffentlichen Erklärung mussten, so die mg, zunächst innerhalb der Gruppe aufgebrochene Konfliktlinien (womöglich um die Frage, ob und wie weit man in seinen Texten Transparenz über die eigene Struktur, Denk- und Arbeitsweise schaffen kann, wenn der Staat damit für Dritte Knast rechtfertigen kann) freigelegt, ausgesprochen und in die Nähe der Klärung geführt werden. Nur verhältnismäßig kurz geht die mg auf den Prozess vor dem Kammergericht ein ohne selbstkritisch ihr langes Schweigen gegenüber den von Repression Betroffenen zu reflektieren. Ebenfalls mit keinem Wort werden die zahlreichen Aktivitäten erwähnt, die in den letzten zwei Jahren der Totenstille etwas entgegensetzten.

Die radi steht für eine unkontrollierbare Widerstandspresse. Sie ist aber längst nicht mehr das, was sie einmal war: Eine bedeutende, bundesweite klandestine Struktur radikal linker Kräfte. Die Ausgaben der vergangenen Jahre wurden mehr und mehr Prosa. Es gibt eben keine RZ und auch keine starke militante, autonome Bewegung mehr, zwischen denen sich das Zeitungsprojekt verorten kann. Zwangsläufig hat das Auswirkungen auf Konzeption und Inhalt der Zeitung, was sich schon in der Schwarzen Reihe (radi Nr. 157 bis Nr. 160) zeigte. Dennoch: Auch und gerade in Zeiten von schwachen militanten Kräften ist ein solches Medium unverzichtbar, weil Indymedia und junge Welt nicht alles veröffentlichen. Für bestimmte Texte braucht es ein Medium, das staatliche Kontrollmechanismen sabotiert.

Wer fundamentaloppositionell zum kapitalistischen System agiert muss nämlich mit Konsequenzen rechnen. »Deshalb finden wir es notwendig«, schrieb ein radikal-Redaktionskollektiv in den 90er Jahren »verdeckte Strukturen weiterzuentwickeln und an ihnen, wie an den öffentlichen Initiativen, Perspektiven linker revolutionärer Politik diskutierbar zu machen.« Um nichts weniger als revolutionäre Politik - das heißt letztendlich: die Machtfrage stellen - ging es der Zeitung: »Revolutionäre Politik muss sich die Fähigkeit bewahren, staatlich und gesellschaftlich vorgegebene und oftmals repressiv abgesicherte Grenzen zu überschreiten.« Diesen Gedanken nimmt die radi mit ihrem Wiedererscheinen auf. Sie spricht in der aktuellen Ausgabe von einem »revolutionären Aufbauprozess« und sieht dabei in einem regelmäßig erscheinenden Medium einen wichtigen Schritt. Um den »Aufbau einer verdeckten, schwer angreifbaren Struktur« war die radi seit ihrem Gang in die Illegalität bemüht. Ob sie eine Plattform sein kann und werden wird, von der sich Wege öffnen, die es ermöglichen das kapitalistische System anzugreifen und zu schädigen, hängt jedoch nicht allein von ihr ab.

Trotz aller Entwicklungen und Brüche, die die radi hinter sich hat, versteht die neue radi ihre Ausrichtung in guter alter Tradition als antikapitalistisch, antirassistisch und antipatriarchal, ebenfalls als antiimperialistisch-internationalistisch und schließt ihre einleitenden Worte mit »Für den Kommunismus«, einer Parole, die man in dieser Zeitung bislang hauptsächlich in dokumentierten Erklärungen lesen konnte.

Das Redaktionskollektiv, welches die klandestine Struktur übernommen hat, besteht nach eigener Auskunft aus Gruppen, Aktivistinnen und Aktivisten, die aus verschiedenen Strömungen der revolutionären Linken kommen und auf unterschiedlichen Ebenen aktiv sind. Sie wollen keine zweite Interim sein, sondern in den kommenden Ausgaben durch eigene Beiträge eine kontinuierliche Diskussion über revolutionäre Politik gewährleisten. Keine Frage: Es ist dufte, dass Genossinnen und Genossen diese Aufgabe übernommen haben. Neue Leute bringen frischen Wind. Man darf also gespannt sein.

Die radi möchte zudem die linken, revolutionären Zirkel zusammenbringen, alle Kräfte vereinen und für die ganze Bewegung da sein. Ob die Herausforderung, zu einem strömungsübergreifenden Projekt der radikalen Linken zu werden, sich erfüllen wird ist offen. Voraussetzung ist eine Öffnung, was nicht bedeutet, zu öffentlichen Redaktionstreffen einzuladen wie um 1980. Nein, die radi war lange genug ein Einfallstor für V-Männer und Spitzel; Dirk Schneider und Tarek Mousli sind dafür nur Beispiele. Öffnung heißt zuallererst im nächsten Vorwort eine der Abschlussparolen zu variieren: »Lest, lebt und schreibt radikal«. Denn leider ist in der aktuellen radi - neben einigen Textzeilen - die Kontaktadresse nicht gedruckt oder vergessen worden*. So wird - entgegen dem geäußerten Interesse »an einer möglichst breiten Beteiligung von euch« - die nächste Ausgabe allein von dem bestehenden Redaktionskollektiv gefüllt werden müssen. Es wäre der radi zu wünschen, dass es ihr bis dahin gelingt, innerhalb ihrer strömungsübergreifenden Redaktion einen Streit unter ihren sicherlich vorhandenen Fraktionen zu organisieren und ihn soweit es geht transparent zu machen, damit eine Debatte aufkommt, an der sich hinterher anknüpfen lässt. Spätestens dann wäre es an der Zeit auch Externen Platz einzuräumen, um die radi zu einem Projekt aller revolutionären, einschließlich der anarchistischen, autonomen, interventionistischen und kommunistischen Linken zu machen. Denn die radi wird so gut, wie diejenigen, die sie als ihre Zeitung nutzen und begreifen.

Anmerkung

* Dass auch die neue radi Kinderkrankheiten überwinden muss, sollte man ihr verzeihen und ihr eine Entwicklung zugestehen. Auch die nach einer mehrjährigen Pause im Jahr 2004 erschienene erste Ausgabe der Schwarzen Reihe (»Mundorgel für Militante«), die fast ausschließlich aus einer Anleitung der Earth Liberation Front zum Brandsatzlegen bestand, wurde belacht und kritisiert. Erst mit den nachfolgenden Nummern hat sich sowohl Lachen als auch Kritik gelegt.

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