Justiz: Karlsruher Kabale
Der Bundesgerichtshof wirft der Bundesanwaltschaft unangemessene Härte bei Ermittlungen gegen linke Gruppen vor. Auch in Berlin ist Generalbundesanwältin Monika Harms isoliert.
Sie haben seine Telefone überwacht, seine Briefe gelesen, Videokameras vor seiner Arbeitsstelle und seinem Haus installiert. Sie haben überprüft, welche Internetseiten er anschaute, und das Telefon seines Sohnes abgehört. Einmal haben sie sogar seinen VW Passat entführt, um ihn zu verwanzen – und solange einen baugleichen Wagen vorm Haus geparkt.
Fast zehn Jahre lang ist der studierte Physiker Jochen U., 62, überwacht worden. Die Späher führten über sein Leben minutiös Protokoll: Sie notierten, dass er bei Lidl einkauft, gelegentlich den Sperrmüll im Innenhof inspiziert und manchmal trotz Grippe bei seiner Arbeitsstelle in einer Bäckerei erscheint.
Beantragt wurden diese massiven Grundrechtseingriffe von der obersten Ermittlungsbehörde des Landes, der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Sie vermutete in dem Berliner einen linken Staatsfeind und Terroristen.
Spätestens seit 1998 schnüffelte der Verfassungsschutz hinter U. her, einem bekennenden Linken, der sich unter anderem für Häftlinge engagiert. Die Geheimen hielten ihn und zwei weitere Berliner für Gründer einer „militanten gruppe“, die sich ab 2001 zu Brandanschlägen bekannte. Als in jenem Jahr unter anderen der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff in einem Brief eine scharfe Patrone fand und damit erstmals auch Menschen ins Visier gerieten, eröffneten die Bundesanwälte ein Verfahren.
Das war lang, teuer – und rechtswidrig. Zu diesem Schluss kommt der Bundesgerichtshof (BGH), an den sich Jochen U. gewandt hatte. Aufgrund „bloßer Vermutungen“ habe man U. und die weiteren Beschuldigten als potentielle Terroristen abgestempelt und trotz ausbleibender Erfolge jahrelang weiterermittelt. Die Fahnder hätten gar Entlastendes vorenthalten, monieren die Richter ungewöhnlich scharf.
Der Beschluss ist der vorläufige Höhepunkt in einer Serie von Belehrungen, Rügen und Korrekturen, die die Bundesanwaltschaft seit dem Amtsantritt von Monika Harms 2006 einstecken musste. Vor allem bei Verfahren gegen die linke Szene werfen die Richter den Ermittlern übertriebene Härte vor, in diversen Fällen seien die Bundesanwälte über das Ziel hinausgeschossen.
Bei der Kabale aus Karlsruhe geht es allerdings um mehr als nur um Zwist zwischen Spitzenjuristen. Dass sich Harms, die anfangs so forsche Generalbundesanwältin, mehr und mehr ins Abseits ermittelt hat, dämmert auch der Bundesregierung. Der ehemalige BGH-Richter und heutige Rechtspolitiker der Linkspartei, Wolfgang Neskovic, spricht von „eklatanten juristischen Blamagen“ und fordert ihren Rücktritt.
Im Kern geht es um die Frage, was im Zeitalter des islamistischen Terrorismus und zwölf Jahre nach Auflösung der Roten Armee Fraktion (RAF) als Terrorismus anzusehen ist – und entsprechend hart bekämpft werden darf. Während die Gefahr heutzutage von islamistischen Attentätern ausgehe, heißt es in Berlin, verfolgten die Ermittler jede autonome Kleingruppe wie einen Wiedergänger der RAF, aus Sicht des Bundesgerichtshofs häufig jenseits der Legalitätsgrenze.
So kassierte der BGH Harms’ Bewertung der „militanten gruppe“ als terroristische Vereinigung und stufte sie als kriminelle Vereinigung ein, die zwar schwere Straftaten begehe, nicht aber wie einst die RAF den Staat als Ganzes gefährden könne. Die Razzien bei Globalisierungskritikern vor dem G-8-Gipfel 2007, die bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatten, werteten die Richter als unzulässig. Und den Versuch der Bundesanwälte, die ehemalige RAF-Frau Verena Becker wegen Mittäterschaft am Mord des Generalbundesanwalts Siegfried Buback neu zu verfolgen, kommentierte das Gericht skeptisch: Die Beweise rechtfertigten lediglich den Verdacht auf Beihilfe.
Besonders der BGH-Beschluss zum Fall der drei Berliner Beschuldigten hat es in sich. Es habe zu „keinem Zeitpunkt einen ausreichenden Tatverdacht“ für eine derart weitreichende Überwachung gegeben, heißt es darin. Der 3. Strafsenat sah sogar „Anlass“, die Kollegen von der Bundesanwaltschaft „darauf hinzuweisen, dass die präventive Gefahrenabwehr nicht Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden ist“. Zwar hatte Harms das Verfahren nicht selbst gestartet, sondern von ihrem Vorgänger übernommen. Sie betrieb es aber mit besonderem Eifer. Auch die Durchsuchung von Auto, Arbeitsstelle und zwei Wohnungen 2007 habe „keine Hinweise auf eine Mitgliedschaft“ in der „militanten gruppe“ oder „sonstige relevante Erkenntnisse“ erbracht, heißt es im Abschlussbericht zum Verfahren, das 2008 gegen U. und die zwei anderen Beschuldigten eingestellt wurde.
Die Kritik offenbart Fehler im System. Eigentlich sollen Ermittlungsrichter jede Überwachung überprüfen. Doch in der Praxis agieren sie meist weniger als Kontrolleure denn als Partner der Staatsanwälte – und lassen die Anträge in der Regel anstandslos passieren. „Das Immunsystem hat versagt“, sagt der Anwalt Sönke Hilbrans, der die Sache vor Gericht gebracht hat. „Insgesamt hat der BGH bei einem einzigen Betroffenen 39 Entscheidungen von Ermittlungsrichtern als rechtswidrig aufgehoben, die meist wörtlich den Anträgen der Bundesanwaltschaft entsprachen.“ Jochen U. sagt, es werde „sichtbar, wie groß die Bereitschaft ist, auch bei dünnsten Grundlagen weitreichende Überwachungen zu genehmigen“.
Wie schnell sich Spekulationen zu jahrelangen Ermittlungen verselbständigen, zeigen auch die Anti-Terror-Verfahren gegen Gegner des G-8-Gipfels in Heiligendamm. Im März 2006 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz den Bundesanwälten einen 20-seitigen Geheimvermerk übersandt, der Aufschluss über angebliche Hintermänner mehrerer Brandanschläge geben sollte. Eine Gruppe um den Brandenburger Autonomen-Veteran Armin M., 68, sei für die „militante Kampagne“ verantwortlich.
Belege? Der Rentner habe an öffentlichen Vorbereitungstreffen gegen das G-8-Treffen teilgenommen. Zudem seien in einem Autonomen-Handbuch, das M. und andere herausgegeben hatten, ähnliche Begriffe wie in Bekennerschreiben benutzt worden. Das Dossier aus der Grauzone der Geheimen bildete die Grundlage für ein Ermittlungsverfahren gegen 21 Personen und mündete in eine bundesweite Razzia im Mai 2007, vier Wochen vor dem G-8-Gipfel. Die öffentliche Kritik konterte Harms damals: „Wir sind nicht über das Ziel hinausgeschossen.“ Wer „aus politischen Gründen den Staat in organisierter Weise mit Gewalt überziehe“, sei nun einmal Mitglied einer terroristischen Vereinigung.
Am Ende blieb nichts von den Vorwürfen bestehen, 2008 stellten die Ermittler die Verfahren in aller Stille ein. Der Bundesgerichtshof sprach der Bundesanwaltschaft sogar die Zuständigkeit ab: Die notwendige Gefahr einer erheblichen Schädigung des Staates habe nie bestanden.
Mittlerweile hat der BGH die Ermittler nicht nur beim Linksextremismus zurückgepfiffen, sondern auch in Proliferationsverfahren. „Wir haben eine Tendenz in der Rechtsprechung, die die Gefahr aus dem Blick nimmt und mit feinen juristischen Überlegungen darzulegen versucht, dass alles nicht so schlimm ist“, verteidigte sich Harms in einem ihrer seltenen öffentlichen Auftritte.
Konflikte zwischen Bundesanwälten und den Richtern am Bundesgericht sind in der juristischen Gewaltenteilung angelegt, doch in diesem Fall gibt es auch eine persönliche Komponente. Harms hat selbst fast 20 Jahre am BGH gerichtet. Als sie Chefanklägerin wurde, stand ihr ehemaliger Kollege Klaus Tolksdorf dem für Staatsschutzsachen zuständigen Senat vor, unter seiner Regie entstand etwa der besonders scharfe G-8-Beschluss. Die in CDU-Kreisen gut vernetzte Harms sprach sich gegen Tolksdorfs Aufstieg zum BGH-Präsidenten aus – vergebens. Die „Spannungen zwischen den Hausspitzen haben leider auf das Verhältnis der Institutionen durchgeschlagen“, sagt ein BGH-Insider, der namentlich nicht zitiert werden will.
Dazu kommt, dass Harms die politische Rückendeckung fehlt, seit sich auch in Berlin die Zeiten geändert haben. Die Juristin wurde in einer Phase ernannt, als die Große Koalition Sicherheitsgesetze in Serie verschärfte und Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) laut über die präventive Tötung von Terroristen nachdachte. Da passten manche Sätze von ihr gut in die Zeit – zum Beispiel der, wonach es nicht sein könne, dass die Freiheitsrechte Einzelner die Schutzrechte Vieler überwögen.
Heute hat sie es mit Thomas de Maizière als Innenminister zu tun, der neuen Sicherheitsgesetzen eine Absage erteilt hat – und ihre direkte Vorgesetzte ist Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), eine ausgewiesene Bürgerrechtlerin. Noch aus der Opposition heraus hatte die FDP-Politikerin Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung eingelegt. Harms hingegen hält die Pflicht zur Speicherung aller Verbindungsdaten für einen „wichtigen Ermittlungsansatz“.
Das schwierige Verhältnis wird durch die politischen Aktivitäten der Generalbundesanwältin nicht herzlicher. Für Ärger sorgte im Justizministerium etwa ein Besuch von Harms bei Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), von dem die Ministerialen durch Zufall erfuhren. Es ging um die Zuständigkeit bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Auch dass Harms vor Vertretern der Unionsfraktion Zweifel an der vom Justiz - ministerium vorgeschlagenen Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Leipzig anmeldete, ist der Ministerin nicht entgangen.
Harms hat sich mittlerweile zurückgezogen, sie will nicht ständig öffentlich gerügt werden. Neue Großverfahren gegen linke Gruppen werde es von der Bundesanwaltschaft nur in spektakulären Ausnahmefällen geben, heißt es in der Behörde. Von einem „Hauch von Resignation“ ist in Karlsruhe die Rede. Harms, 63, habe sich entschieden, die Zeit bis zu ihrer Pensionierung im kommenden Jahr möglichst frei von weiteren Unfällen zu verwalten.
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